Analyse der 10-Jahres-Blutbilddaten der Eisschnell-Läuferin Claudia Pechstein
Analysis of Erythrocytic Blood Counts of Speed Skater Claudia Pechstein (2000-2009)
ZUSAMMENFASSUNG
Die Blutzell-Daten der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein wurden untersucht. Es wurden keine Unterschiede zwischen Blutwerten festgestellt, die bei TopEreignissen wie Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen, WeltcupVeranstaltungen und im Training gewonnen worden waren. Hämoglobinwerte, Hämatokritwerte und Retikulozytenzahlen waren in diesen verschiedenen Situationen prinzipiell gleich. Die Mittelwerte für Hämoglobin der 10 analysierten Jahre waren 14.6, 14.5 and 14.6 g/dl bei Top-Ereignissen, Weltcup-Veranstaltungen und Trainingskontrollen. Der mittlere Hämatokritwert wurde mit 40.8, 40.9 und 39.8% errechnet. Die mittleren Retikulozytenwerte lagen bei 2.1, 1.9 und 2.0% in den verschiedenen Kontroll-Situationen. Es gab keinen systematischen Anstieg der hämatologischen Parameter während der Trainingsphase im Frühherbst und der nachfolgenden Wettbewerbssaison vom September bis zum März des folgenden Jahres, wenn die Werte aller Jahre zusammen analysiert wurden. Die mittleren Hämoglobinwerte lagen zwischen 14.4 to 14.6 g/dl, die mittleren Retikulozytenzahlen zwischen 1.9 und 2.1%. Nach erhöhten Retikulozytenwerten wurde niemals ein Hämoglobinanstieg von z.B. 1 g/dl dokumentiert, wie es bei stimulierendem Blut-Doping zu erwarten ist. Statt dessen wurde der mittlere Hämoglobinwert nach zu hohen Retikulozytenzahlen mit 14.3 g/dl bestimmte und mit 14.6 g/dl nach Retikulozytenzahlen unter 2.4%.Zusammenfassend wurde kein Hinweis für Blut-Doping vor der WM 2009 in Hamar gefunden. Zusätzlich wurde kein Hinweis für systematisches Blutdoping über die 10 Jahre hinweg gefunden. Diese Analyse hätte von den ISU-Verantwortlichen vor der Anklageerhebung durchgeführt werden müssen.
Schlüsselwörter: Doping, Blutdoping, Claudia Pechstein, Retikulozyten, Eisschnelllauf.
SUMMARY
Red blood cell data of Claudia Pechstein were analyzed. There were no differences to be observed in blood taken during Olympic or world championchips compared to world cup competitions or compared to tests taken during training phases. Hemoglobin levels, hematocrit calculations and reticulocyte counts were the same at these different situations. Mean haemoglobin level of the ten years analyzed was 14.6, 14.5 and 14.6 g/dl for top events, world-cup races and training controls, respectively. Mean hematocrit was determined by 40.8, 40.9, and 39.8%. Mean reticulocyte was 2.1, 1.9, and 2.0%.There was no increase in any hematologic parameter during training phase and competitive season from September to March of the following year in case the blood counts of all 10 years were analyzed together. There has been no increase in hemoglobin level in the course of the season 2008/2009. The same holds true for reticulocytes with the exception of the two controls taken at the world championship at Hamar, which have led to the doping ban. In Mrs. Pechstein, elevated reticulocyte counts were never followed by a relevant increase of haemoglobin, e.g., greater than 1 g/dl. Instead of, mean haemoglobin level was 14.3 g/dl during the next four weeks after increased reticulocytes and 14.6 g/dl after normal counts.This analysis should have been done by ISU authorities prior to accusing the skater.
Key words: doping, blood doping, Claudia Pechstein, reticulocytes, skating.
EINLEITUNG
Claudia Pechstein hat als erste Weltklassesportlerin alle Blutbilddaten (Hämatokrit, Hämoglobingehalt, Erythrozyten-Indizes und Retikulozytenzahl) der Dopingkontrollen der Jahre 2000 bis 2009 öffentlich gemacht. Die Zahlen der offiziellen ISU-Tabelle wurden auf Hinweise für Blutdoping analysiert. Dabei wurde nach Spuren von stimulierendem Blut-Doping mit Substanzen, bei denen Epo nur eine von vielen ist, gesucht. Andererseits wurde auch nach Hinweisen für passives Doping mit z.B. Eigenblut gesucht (1, 3, 4, 7, 9, 10, 11). Es ist wichtig zu wissen, dass den Athleten ihre Blutwerte nicht regelmäßig mitgeteilt werden. Sie haben dementsprechend keine einfache Möglichkeit, Hämoglobin und Hämatokrit je nach gemessenen Blutwerten zu manipulieren. Prinzipiell könnten Sie Werte auch selbst mit eigenen Geräten überprüfen. Dies gilt jedoch im wesentlichen nur für den Hämatokritwert und ist so gut wie ausgeschlossen für die Retikulozytenzahl, die nur mit hoch-komplizierten, nicht transportierbaren Geräten bestimmt werden kann.
Doping-Evidenzen
Bei der Suche nach Doping-Evidenzen ist es sinnvoll vier Situationstypen zu checken:
- Gibt es Hinweise für zielgerichtete „Optimierung“ der Blutwerte zu Top-Ereignissen wie Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen?
- Hämoglobinanstiege als mögliche Epo-Folge oder als Folge der Retransfusion zuvor entnommenen Blutes
- Hämoglobinabfälle als möglicher Ausdruck einer vorherigen Entnahme einer Eigenblutkonserve
- Hohe Retikulozytenzahlen als Epo-Evidenz oder Evidenz für andere die Blutbildung direkt oder indirekt stimulierende Substanzen (ESA).
Zentrale Hypothese dieser Auswertung ist, dass Blutdoping mit dem Ziel durchgeführt wird, bei Top-Ereignissen besonders „gute Blutwerte“, also einen hohen Hämoglobinwert und ein großes Blutvolumen zu haben.
METHODEN
Basis der Analyse ist die ISU-Tabelle der Blutwerte der EisschnellLäuferin Claudia Pechstein. Erhalten habe ich diese Tabelle von ihr selbst. Eine weitere Kopie mit identischem Inhalt habe ich vom Verbandsarzt Dr. Lutz, Erfurt, erhalten. Soweit es mir möglich war, habe ich die Richtigkeit der Zahlen anhand des CAS-Urteils und von Interviewäußerungen z.B. des ISU-Gutachters Prof. Dr. Kuipers etc. und anhand von Originalbelegen der Blutuntersuchungen überprüft. Letztere wurden den Sportlern nur in der Anfangszeit ausgehändigt, damit sie solche Zahlen nicht zur Optimierung eines Dopings verwenden konnten. Dabei ergab sich bislang lediglich eine Diskrepanz. Am 04.02.2000 findet sich der offiziellen ISUTabelle ein Retikulozytenwert von 2.3%, auf einem Laborzettel aus Milwaukee zu diesem Datum jedoch ein Wert von 2.5%.
ERGEBNISSE
Es stellt sich die Frage, ob die Blutwerte bei Weltmeisterschaften und bei Olympischen Spielen anders sind als bei WeltcupVeranstaltungen und bei unangemeldeten Trainingskontrollen.
Bei summarischer Betrachtung aller Zahlenwerte ist keine Tendenz zu erkennen, dass mittels Doping die Blutwerte Hämatokrit und Hämoglobin für Top-Ereignisse „optimiert“ wurden, um damit eine bessere Leistungsfähigkeit zu erreichen. Auch bei den Retikulozyten sieht man keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Kontroll-Situationen. Der mittlere gemessene Hämoglobinwert liegt bei 14.5 bzw. 14.6 g/dl in den drei hier unterschiedenen Kontroll-Situationen. Beim Hämatokritwert finden sich deutlichere Unterschiede mit 40.8 und 40.9% bei Top-Ereignissen bzw. Weltcup-Veranstaltungen und 39.8% im Training. Der mittlere Retikulozytenwert lag im Training bei 2.0% und in den beiden Wettbewerbssituationen bei 2.1 und 1.9%.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob Europameisterschaften zu den Top-Ereignissen gezählt werden sollen oder nicht. Ich habe beide Möglichkeiten durchgerechnet. Die minimalen Unterschiede zwischen Top-Ereignissen und anderen Situationen stellten sich noch kleiner dar oder verschwanden, wenn die Europameisterschaften in der Top-Ereignis-Gruppe gewertet wurden. Um möglichst große Unterschiede zu haben und um auf keinen Fall Dopingspuren zu übersehen, wurden sie daher mit den Weltcup-Wettbewerben zusammengefasst.
Blutwerte bei Top-Ereignissen – Einzeldarstellung
Abbildung 1 gibt Hämoglobin-, Hämatokrit- und Retikulozytenwerte bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen vom Jahr 2000 bis 2009 wider. Es fällt ein Trend zu niedrigeren Hämoglobinwerten bei stark streuenden Hämatokrit-Kalkulationen und deutlich steigenden Retikulozytenzahlen auf. Dieses diskrepante Bild ist schlecht mit einem Dopingkonzept vereinbar und passt eher zu einer sich allmählich leicht verschlechternden BlutAnomalie (2, 8).
Top-Ereignisse im Vergleich mit Weltcups und Trainingskontrollen – die Blutwerte des Tages Null vor Beginn von WM oder Olympia
Während des Verlaufes von mehrtägigen Ausdauer-Sportveranstaltungen sinken Hämoglobinwert und Hämatokrit oft physiologischerweise (5, 6, 9). Deshalb könnte es sein, dass ein Dopingeffekt übersehen wird, wenn man alle WM- und Olympia-Blutwerte in einen Topf wirft. Es erscheint deshalb angeraten, selektiv die Blutwerte des Tages Null vor Beginn der Wettkämpfe zu betrachten.
Bei Frau Pechstein lag der mittlere Hämoglobinwert über alle Weltmeisterschaften und Olympische Spiele hinweg am Tag Null vor Beginn der Wettbewerbe bei 14.8 g/dl. Das ist um 0.2 g/dl höher als der Mittelwert der unangemeldeten Trainingskontrollen und um 0.3 g/dl höher als bei Weltcupveranstaltungen und Europameisterschaften. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Frau Pechstein ihren Hämoglobinwert für Top-Ereignisse gezielt angehoben hat.
14.8 g/dl war der mittlere Hämoglobinwert am Tag vor Beginn der Wettkämpfe. Bei den weiteren Kontrollen während der Wettkampftage wurde über alle Top-Ereignisse hinweg ein Mittelwert von 14.3 g/dl bestimmt, also 0.5 g/dl niedriger. Dies ist ein physiologisches Bild ohne Hinweis auf Verdünnungsmanipulationen. Beim Vergleich der Start-Top-Ereignis-Werte mit den Trainingskontrollen und Weltcup-Kontrollen müsste man nun wissen, ob letztere Blutabnahmen unter Ruhebedingungen wie am Tag Null bei Weltmeisterschaften oder in Situationen wie nach Wettkämpfen erfolgt sind. Wahrscheinlich sind sie ein mixtum compositum.
Folglich ist davon auszugehen, dass sich die Hämoglobinwerte bei Top-Ereignissen nicht signifikant von denen im Training und bei Weltcup-Veranstaltungen unterscheiden.
Blutbild-Mittelwerte in den Monaten vor Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen
Als nächstes sollen diese Ergebnisse in Abbildung 2 unter dem alleinigen Aspekt der Top-Ereignisse Weltmeisterschaften und Olympische Spiele dargestellt werden. Wenn Blut-Doping stattgefunden hat, müsste sich dies durch einen Verlauf in den Monaten zu den Top-Ereignissen hin dokumentieren. In den Monaten April bis Juni hat es in den 10 Jahren keine Kontrollen gegeben, in den Monaten Juli und August nur insgesamt drei. In den nachfolgenden Monaten von September bis Februar/März (Top-Ereignis-Saison) des folgenden Jahres wurde der mittlere Hämoglobinwert jeweils zwischen 14.4 und 14.6 g/dl gemessen ohne erkennbaren Trend zur Optimierung zu den Top-Ereignissen hin. Bei den Retikulozyten lagen die monatlichen Mittelwerte jeweils zwischen 1.9 und 2.1 % ebenfalls ohne erkennbaren Trend.
Blutbild-Werte an den letzten 40 Tagen vor Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen sowie an den darauf folgenden 40 Tagen.
Bei der Suche nach verdecktem Blutdoping stellte sich als nächstes die Frage, wie die Blutwerte in der ganz konkreten Vorbereitungsphase für Weltmeisterschaften und Olympische Spiele gemessen wurden. Dazu wurden alle Top-Ereignisse gemeinsam betrachtet und die vorliegenden Blutwerte sowohl in der Vorbereitungsphase als auch in der Zeit nach den Wettkämpfen in Relation zum Start-Tag betrachtet. Die Ergebnisse sind in Abbildung 3 dargestellt. Beim Hämoglobinwert sieht man einen Ausreißerwert von 16.5g/dl der sehr doping-verdächtig erscheint und unten separat diskutiert wird. Bei den Retikulozyten beobachtet man einen Anstieg, der sich auch in der Funktion Trendlinie zeigt mit einem Anstieg von 1.8 auf 2.1% zu den Top-Ereignissen hin.
Die Abbildung 4 zeigt die Blutwerte beginnend am Tag Null und den dann folgenden 40 Tagen.
Hämoglobinanstiege über 1 g/dl innerhalb von 2 Monaten
Hämglobinanstiege oder -abfälle um 1 g/dl sind per se kein besonderes Zeichen. Nach den Rennen liegt bei Eisschnell-Läufern der Hämoglobinwert im Mittel 0.4 g/dl niedriger als in ScreeningPhasen, wie von H. Kuipers festgestellt (5).
Ein bekanntes Phänomen ist, dass der Hb-Wert bei Abnahme im Sitzen oder Stehen sowie Laufe des Tages höher ist als nach längerem Liegen (10). Beim Autor selbst beträgt der Unterschied 1.4 g/dl (am Tag aus der Arbeit heraus sowie drei Tage später, zwei Tage nach unblutiger Knie-Arthoskopie morgens im Bett).
Es gibt bei Frau Pechstein in 10 Jahren insgesamt sechs Hämoglobinanstiege über 1 g/dl innerhalb von bis zu zwei Monaten. Die ersten drei davon sind in der CAS-Urteilsbegründung ausdrücklich als Indizien für Blutdoping erwähnt.
Fall 1: Zunächst fällt bei Berücksichtigung auch des letzten vorherigen ISU-Wertes vom November 2006 auf, dass der Hämoglobinwert nicht vom Dezember bis Januar gestiegen ist sondern am 14. Dezember auffällig niedrig war. Hier kann dementsprechend nicht von einem „Anstieg“ gesprochen werden, wie es das CAS-Gericht getan hat.
Fall 2: Im CAS-Urteil werden die Werte vom 4.2.2007 mit denen vom 1.3.2007 verglichen. Der Wert vom 4.2.2007 ist ein NachWettkampf-Wert, der naturgemäß oft niedriger ist, wie oben dargestellt. Das Gericht wollte offenbar einen möglichst großen Anstieg des Hämoglobinwertes „nachweisen“. Allerdings sind Hämoglobin und Hämatokrit verdächtig hoch. Leider erfolgte die Nachkontrolle erst nach drei Monaten (hier keine WM).
Fall 3: Auch hier fällt auf, dass der Hämoglobinwert nicht vom November bis Dezember gestiegen ist, sondern dass er am 13. November auffällig niedrig war. Auch der dritte vom Gericht angegebene Hämoglobin-Anstieg lässt sich bei genauer Betrachtung nicht halten.
Fall 4: Anstieg Nr. 4 ist der dramatischste (siehe auch Abb. 9). Hinzu kommt, dass an diesem Tag der Retikulozytenwert zwar für Normalpersonen mit 1% mitten im Normbereich lag. Wenn man bei Frau Pechstein jedoch die Blutanomalie-These akzeptiert mit höheren als normalen Retikulozytenwerten, ist dieser Wert auffällig niedrig. In den 10 Beobachtungsjahren hatte sie nie einen niedrigeren Retikulozytenwert. Die Kombination von besonders hohem Hämoglobinwert in Verbindung mit einem sehr niedrigen Retikulozytenwert ist hoch verdächtig für Blutdoping in der Zeit davor.
Allerdings lag der Hämoglobinwert drei Tage später mit 13.8 g/dl bei einer Nach-Wettkampfkontrolle wieder in dem Bereich der Nachwettkampf-Werte. Entsprechende niedrige Werte fanden sich bei zwei Kontrollen Ende Februar.
Drei Erklärungsmöglichkeiten für Anstieg Nr. 4 sind denkbar. Möglichkeit 1 wäre Doping mit Blutstimulantien zwischen beiden Blutuntersuchungen. Zur Verdeckung des Dopings hätte Frau Pechstein dann nach dem ersten hohen Hämoglobinwert Blut abgelassen („Aderlass“), so dass wenige Tage später wieder niedrige Hämoglobinwerte erreicht wurden. Doping-Kontrolleure haben keine Möglichkeit einen solchen Aderlass zur Verdeckung des Dopings zu entdecken. Möglichkeit 2 ist, dass die Messung am 6. Februar ein falsches Ergebnis erbracht hat. Als Arzt weiß man, dass Fehlbestimmungen von Blutwerten zwar selten sind, jedoch immer wieder vorkommen. Möglichkeit 3 ist eine besonders starker Flüssigkeitsverlust zuvor durch beispielsweise Magen-Darm-Infekt oder Training ohne Trinken.
Fall 5: Der Fall Nr. 5 ist ein zwar nur ein grenzwertiger Fall. Der Ausgangswert ist eine Nach-Wettkampf-Kontrolle. Der Anstieg erfolgte jedoch ökkzu einer Weltmeisterschaft und ist damit besonders verdächtig. Leider erfolgte die nächste Kontrolle erst nach drei Monaten (Siehe auch Abb. 8).
Fall 6: Bei Nr. 6 war der „Startwert“ vom 4.3.2006 besonders niedrig; eine Woche vorher hatte er noch bei 14.8 g/dl gelegen. Siehe auch unten des Aspektes Hb-Abfall als möglicher Ausdruck einer Eigenblut-Entnahme.
Situationen mit Hämoglobinabfall größer als 1 g/dl innerhalb eines Monats
Es gab in den 10 Beobachtungsjahren insgesamt acht Situationen mit Hämoglobinabfall größer als 1 g/dl innerhalb eines Monats. Diese könnten auf die Entnahme einer Eigenblut-Konserve hindeuten.
Situation 1: Abfall Nr. 1 könnte durch Abnahme einer Eigenblut-Konserve verursacht sein eventuell nach vorheriger Epo-Stimulation Anfang November. Dazu passen würde der relativ hohe Hämoglobinwert (0.5 g/dl über dem langjährigen Mittelwert) und der nach ISU-Kriterien erhöhte Retikulozytenwert am 10.11.2001. Allerdings wäre dann zum Zeitpunkt des niedrigen Hb-Wertes ein hoher, steigender Retikulozytenwert zu erwarten gewesen. Der Wert ist jedoch im Vergleich zum 10.11.2001 leicht rückläufig gewesen.
Die Herstellung einer Eigenblut-Konserve hätte zu diesem Zeitpunkt Sinn gemacht im Hinblick auf die bevorstehenden Olympischen Spiele. Es findet sich jedoch kein Hinweis auf eine Retransfusion vor Olympia. Weder sind Hämoglobin und Hämatokrit dabei auffällig hoch, noch ist die Retizahl dort auffällig niedrig.
Situation 2: Dieser Abfall scheint eine Sondersituation darzustellen. Am folgenden Tag wurde der Hb-Wert wieder so wie immer gemessen. Entweder liegt hier ein Messfehler vor oder der „Abfall“ hat etwas mit Verdünnungseffekten unter Trainings- oder Wettkampfbedingungen zu tun.
Situationen 3 und 4: Die Hb-Abfälle Nr 3 und 4 ergaben sich bei der Konstellation Blutabnahme am Tag vor Beginn des Wettbewerbs und einer bei Nach-Wettkampf-Kontrolle am folgenden oder übernächsten Tag. Diese Abfälle dürften a priori unverdächtig sein.
Situation 5 und 6: Ähnliche Fälle wie Nr. 1 und Nr. 7.
Situation 7: Ein Journalist hat mich auf besonders gute Zeiten von Frau Pechstein in Moskau im Herbst 2008 angesprochen. Dort seien keine Doping-Kontrollen gelaufen, weil die Doping-Kontrolleure keine Visa erhalten haben. Dies sei den Sportlern bekannt gewesen. Hier könnte Frau Pechstein gedopt haben.
Mit Blut-Doping wäre folgendes Szenario vereinbar: Frau Pechstein hätte sich vor dem 13.11.2008 eine Eigenblutkonserve abnehmen lassen; das würde den niedrigen Wert vom 13. November erklären. Kurz vor Moskau hätte sie sich den Beutel wieder rücktransfundieren lassen. Das würde den höheren Wert von 15.3 g/dl später erklären.
Allerdings hätte nach einer Eigenblutentnahme (wegen des Blutmangels) der Retikulozytenwert steigen und am 13.11.2008 höher sein müssen – außer die Eigenblutentnahme wäre in der Zeit vom 10.-12. November erfolgt.
Am 18.12.2008 dagegen hätte der Retikulozytenwert nach vorheriger Eigenblut-Retransfusion vor dem Moskau-Wettbewerb erniedrigt sein müssen (er lag aber bei 2.2%). Der Abfall der Retikulozytenzahl bei gestopptem Epo-Doping oder nach Retransfusion einer Eigenblut-Konserve wird mit dem „Off-Score“ identifiziert.
Zur Europameisterschaft Anfang Januar (Abb. 5) ist sie dann wieder mit niedrigerem Hämoglobinwert gekommen. Zentrale Frage bleibt bei diesem Szenario natürlich, warum sich jemand für eine Weltcup-Veranstaltung dopt und zu der nachfolgenden Europameisterschaft nicht, bei der Frau Pechstein später im Januar 2009 mit den Blutwerten (Hämoglobin und Hämatokrit) mitten im für Hämoglobin bzw. in der unteren Hälfte des Normbereiches für Hämatokrit Europameisterin im Mehrkampf geworden ist.
Situation 8: Frau Pechstein ist hier Europameisterin im Mehrkampf geworden. Dass vor dem Wettbewerb noch ein Aderlass vorgenommen wurde, erscheint nicht plausibel.
Verlauf der Hämoglobinwerte nach Retikulozytenzahlen über der ISU-Grenze 2.4%
Steigt der Hämoglobinwert nach überhöhten Retikulozytenwerten? Eine wichtige Frage ist, ob der Hämoglobinwert steigt, wenn die Retikulozytenzahl besonders hoch ist. Wenn stimulierendes Blut-Doping die Erhöhung der Retikulozytenzahl über die ISU-Grenzen verursacht hat, sollte der Hämoglobinwert um z.B. 1 g/dl und mehr steigen.
In den zehn von der ISU dokumentierten Jahren gab es insgesamt 10 Situationen mit Retikulozytenwerten oberhalb des ISUGrenzwertes von 2.4% (Tab. 3).
Der mittlere Hämoglobinwert lag innerhalb der nächsten vier Wochen nach auffälligen Reti-Werten mit 14.3 g/dl niedriger als in allen anderen Situationen (14.6 g/dl). Gleiches gilt für den Hämatokrit.
Wenn der Hämoglobinwert innerhalb eines Monats nach hohen Retikulozytenzahlen tendenziell etwas niedriger ist, passt dies keinesfalls zur Doping-Hypothese. Vielmehr ist diese Situation verdächtig für eine subklinische normalerweise nicht auffallende hämolytische Konstellation (2, 8).
Höhe der Retikulozytenwerte vor Hämoglobinwerten über 15 g/dl
Wenn die höchsten Hämoglobinwerte der Sportlerin Ausdruck von Doping wären, müssten die Retikulozytenzahlen in der Zeit davor besonders hoch sein (Tab. 4). Der mittlere Hämoglobinwert lag bei Frau Pechstein bei 14.5 g/dl; dies ist deutlich höher als der Mittelwert der weiblichen Allgemeinbevölkerung (etwa 13.5 g/dl), aber deutlich innerhalb des Normbereiches, der für Frauen als von 12 bis 16 g/dl reichend angegeben ist (Lehrbuch von L. Thomas). Die Standardabweichung ihrer Werte wurde mit 0.5 g/dl bestimmt. Vor Hämoglobinwerten die oberhalb der oberen Standardabweichungsgrenze von 15 g/dl gemessen wurden, lagen die Retikulozytenwerte im Bereich zwischen 1.3 und 2.1%, der Mittelwert beträgt 1.8% und ist damit niedriger als in anderen Situationen (2.0%).
Verlauf der Blutwerte in den einzelnen Jahren zur Top-Event-Saison hin
2008/2009: Anfang Januar 2009 fand die Europameisterschaft in Heerenveen mit drei Blutbildkontrollen statt. Weitere Kontrollen fanden bei einer Weltcup-Veranstaltung am 30. und 31. Januar statt. Die Tag-Null-Kontrolle der WM fand am Tag vor Beginn der Wettbewerbe statt. Dabei wurde ein sehr hoher Retikulozytenwert von 3.5% festgestellt und bei Kontrollen am folgenden Tag unmittelbar nach einem 3000m-Rennen bestätigt.
Einige Tage später, am 18. Februar 2009, wurde der Athletin im Rahmen einer Trainings-Dopingkontrolle eine weitere Blutprobe entnommen, die einen Retikulozytenwert von 1.37% ergab ohne Hämoglobinanstieg. Die Tabelle wie auch die nachfolgende Abbildung zeigen zur WM in Hamar 2009 keinen Hämatokrit-Anstieg. Gleiches gilt auch für den Hämoglobinwert. Dies ist insbesondere auch zutreffend für die Nachkontrolle am nächsten Tag unmittelbar nach einem Wettkampf mit nur sehr begrenzten Möglichkeiten, die Blutwerte zu manipulieren.
Abbildung 5 zeigt auch, dass zum kritischen Zeitpunkt eine Woche vor Beginn der WM die Retikulozytenzahl noch im Normbereich der ISU gelegen hat. Doping mit Blut-Stimulantien (u.a. Epo) zeigt sich über erhöhte Retikulozytenzahlen nur im Falle des völlig misslungenen Dopings noch bei der Meisterschaft. Üblicherweise demaskiert sich Blut-Doping bei Meisterschaften über besonders niedrige Retikulozytenzahlen und angestiegenen Hämatokritwert.
Die vorherigen Jahre: Die Abbildungen 6 bis 9 zeigen die entsprechenden Blutwerte früherer Jahre. Es fällt schwer, in den Wertekurven ein Doping-Szenario zu entdecken. Im Jahr 2007 hat Frau Pechstein nicht an Top-Events teilgenommen. Die Werte der früheren Jahre entsprechen denen der hier in den Abbildungen dargestellten und können in der downloadbaren Tabelle nachgesehen werden (13). Zum Teil gab es in der Vorbereitungszeit zu wenige Kontrollen.
DISKUSSION
Bei Frau Claudia Pechstein wurden in den Jahren 2000 bis 2009 immer wieder auffällig hohe Retikulozytenwerte oberhalb der Doping-Verdachtsgrenze von 2.4% beobachtet. Diese begründen zu Recht den Verdacht auf aktivierendes Blutdoping (1, 3, 4).
Für die Retikulozytenzahl gibt es keine allgemein akzeptierte Obergrenze. Die oberen Normgrenzen sind geräteabhängig und werden für das bei den ISU-Kontrollen eingesetzte Gerät zwischen 1.4 und 2.5% angegeben. Die untere Normgrenze wird meist bei 0.5% festgesetzt. Nimmt man die im Lehrbuch von Lothar Thomas angegebene Grenze von 1.4% (12), liegt der Großteil der Retikulozytenwerte der Sportlerin im pathologischen Bereich. Zusätzlich fällt auf, dass Frau Pechstein nie Werte im unteren Normbereich hatte. Der tiefste bei ihr in 10 Jahren beobachtete Retikulozytenwert lag bei 1.0%. Dies ist nicht kompatibel mit normaler bzw. unmanipulierter Blutbildung. Wenn keine Blutanomalie vorläge, wäre das einzig zu diesen Werten passende Dopingkonzept die fast tagtägliche Gabe von niedrig-dosierten Blut-Stimulantien über 10 Jahre hinweg (1).
Die Hämoglobinwerte der Sportlerin liegen im mittleren bis oberen Normbereich der weiblichen Normalbevölkerung. Der Mittelwert für Frauen liegt bei etwa 13.5 g/dl, die obere Normgrenze nach Lothar Thomas bei 16 g/dl. Die „ISU-Schutzsperrengrenze“ ist mit 16.5 g/dl festgesetzt.
Für den Hämatokrit ist der Mittelwert für Frauen mit 42% angegeben bei einem Normbereich von 36 bis 48% für Frauen allgemein und von 37 bis 45% für Sportlerinnen. Die „ISU-Schutzsperrengrenze“ ist bei 46% festgelegt. Der langjährige HämatokritMittelwert der Sportlerin liegt mit 40.7% deutlich in der unteren Hälfte des Normbereiches.
Bei Betrachtung von Hämoglobin- und Hämatokritwerten ergibt sich primär kein Anhalt für systematisches Blutdoping. Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht möglicherweise zu bestimmten Einzel-Situationen gedopt wurde. Für die Beantwortung dieser Frage sind Mittelwert-Betrachtungen wertlos. Dazu muss die gesamte 10-Jahres-Periode auf doping-verdächtige Einzel-Auffälligkeiten abgesucht werden.
Von den Hämoglobinsprüngen über 1 g/dl sind die Fälle Nr. 4 (6.2.2004 bei einer WM) und 5 (2.3.2005 bei einer WM) auffällig. Bei keiner der beiden Fälle ist von Seiten der Kontrolleure adäquat gehandelt worden. Bei Nr. 4 mit extrem auffälligen Werten ist die erforderliche Kontrolle nicht am gleichen Tag sondern erst drei Tage später erfolgt. Jahre später hat der dafür verantwortliche Prof. Dr. Kuipers in einem Interview gesagt, die Kontrolle am gleichen Tag sei aus organisatorischen Gründen nicht möglich gewesen. Dass ihm die Kontrolle auch an den folgenden beiden Tagen nicht möglich war, hat er unerwähnt gelassen. Zusätzlich hat er spekuliert, dass die Sportlerin vor der unauffälligen Kontrolle unmittelbar nach zwei Rennen ihr Blut z.B. durch Aderlässe oder Infusionen hätte manipuliert haben können. Wie sie nach Aderlässen und blutverdünnenden Infusionen dabei Vizeweltmeisterin werden konnte, bleibt dann allerdings offen. Beim grenzwertigen Fall 5 erfolgte die nächste Untersuchung nach drei Monaten. Diese beiden Fälle sind absolut unbefriedigend. Das Prinzip „Entlasten oder Überführen“ wurde hier in keiner Weise beachtet.
Bei der Suche nach „Eigenblut-Spenden“ sind die Situationen 1 sowie 5 und 7 verdächtig. Für die Situation 1 findet sich jedoch kein Retransfusions-Szenario (Nr. 1 wäre bei Olympia in Salt Lake City gewesen). Bei Nr. 5 könnte vor der WM in Calgary die Retransfusion erfolgt sein. Dann müssten aber die Retikulozyten bei der WM niedriger sein. Oder Frau Pechstein hätte kurz vor der WM noch Epo gespritzt, um den Retikulozytenwert nach oben zu manipulieren. Situation 7 ist im Ergebnisteil umfassend dargestellt. Was hier nur nicht passt, ist der Zeitpunkt der vermuteten Manipulation. Ein ganz gezieltes Blut-Doping, um in Moskau gute Ergebnisse zu erzielen und um dann bei EM und WM wieder mit den Standardwerten anzutreten, macht wenig Sinn.
Zusammenfassend wurde kein Hinweis für Blut-Doping vor der WM 2009 in Hamar gefunden. Zusätzlich wurde kein Hinweis für systematisches Blutdoping über die 10 Jahre hinweg gefunden. Ein einzelnes oder gelegentliches Blutdoping kann aufgrund der vorliegenden Zahlen nicht ausgeschlossen werden. Aussagen zu anderen Dopingformen z.B. mit dem Ziel der Stärkung der Muskelkraft können auf der Basis der Blutwerte nicht getroffen werden.
Es ergibt sich bei Gesamtschau der Befunde über 10 Jahre hinweg mit für Top-Ereignisse tendenziell fallenden Hämoglobin- und steigenden Retikulozytenwerten das Bild einer milden aber sich verschlechternden Blut-Anomalie. Dies wird auch unterstützt durch den immer wieder deutlich erhöhten MCHC-Wert, der ein Charakteristikum der Membran-Erkrankungen der Erythrozyten ist und bei Doping mit Erythropoetin und Eisen bei Gesunden nicht gefunden wird (7). Von hämatologischer Seite liegt damit sicher eine Membranerkrankung vom Typ der „Sphärozytose oder eine ihrer Varianten“ (wörtlich „hereditary spherocytosis or one of its variants“) vor, wie von Prof. Dr. G. D’Onofrio in seinem Gutachten für die CAS-Verhandlung als Alternative für Blut-Doping vermutet hat. Ob es sich dabei um eine Sphärozytose im engeren Sinn oder um eine Variante davon (dehydrierte Form einer Stomatozytose in Kurzform Xerozytose genannt) handelt, ist für die Beurteilung der Sportlerin ohne Belang, da beide mit erhöhten Retikulozytenzahlen einhergehen und die Betroffenen völlig gesund erscheinen können (2, 8).
Angaben zu finanziellen Interessen und Beziehungen, wie Patente, Honorare oder Unterstützung durch Firmen: Keine.
LITERATUR
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- Hämoglobinkonzentration, in Thmas L (Hrsg):Labor und Diagnose 7. Auflge, TH-Books Verlagsgesellschaft mbH,Frankfurt/Main, 2008, 682-692.
- Update im Fall Pechstein unter http://www.marienkrankenhaus.com/front_content.php?client=13&lang=9&idcat=149&idart=2750
Prof. Dr. med. Winfried Gassmann
Klinik für Hämatologie und internistische Onkologie,
St. Marien-Krankenhaus Siegen
Kampenstraße
57072 Siegen
E-Mail: w.gassmann@marienkrankenhaus.com