Sportmedizin
EDITORIAL

Editorial - Sündenbock oder Unschuldslamm?
Die Rolle der Wissenschaft im Anti-Doping-Kampf

Scapegoat or Innocent as a Lamb?
The Role of Science in Anti-Doping Fight

Auf unsere Frage „Was ist richtig oder falsch, was ist unfair?“ im Editorial  vom  Januar  hat  die  Schriftleitung  Zuschriften  und Diskussionsbeiträge erhalten, die sich auch auf den aktuellen  Fall Pechstein beziehen. Auch wenn wir normalerweise keine Namen von Sportlern nennen, verzichten wir hier auf die Anonymisierung, weil  die  Sportlerin  selbst  die  Öffentlichkeit  in  besonderem  Maße sucht. Wir sind uns in der Schriftleitung mit dem Herausgeber einig, dass eine wissenschaftliche Zeitschrift dieses Thema vor dem Hintergrund des allgemeinen Interesses in einer sachlichen Weise bearbeiten muss.
Das  Ziel  einer  solchen  Bearbeitung  muss  sein,  den  Umgang mit und die Interpretation von wissenschaftlichen Daten im AntiDoping-Kontext zu diskutieren. Die nationalen und internationalen Anti-Doping-Organisationen müssen in solchen Fällen gestärkt werden, da das jetzige Resultat im Fall Pechstein unbefriedigend ist und das Rechtsempfinden schädigt.
Für  den  Sportmediziner  ist  eine  entschiedene  Anti-Doping-Haltung  die  wichtigste  Basis  für  die  Tätigkeit  im  Sport!  Wir unterstützen  die  grundlegenden  Ziele  des  WADA-Codes,  für Sportler einen dopingfreien Sport, Gesundheit, Fairness und Chancengleichheit zu gewährleisten sowie die Regeln und Proceduren für den Anti-Doping-Kampf zu verbessern, zu harmonisieren und weiterzuentwickeln.
Mit  welchen  Erkenntnissen  kann  die  Wissenschaft  im  Fall Pechstein argumentieren?
Schon seit Jahren ist bekannt, dass die beiden hauptsächlich verwendeten  Blutbildanalysegeräte  bei  der  durchflußzytometrischen  Retikulozytenzählung  erhebliche  systematische  Unterschiede  aufweisen.  Das  gilt  insbesondere  bei  Mitanfärbung  von verschiedenen Einschlüssen (z.B. Jollykörperchen) oder wenn sich Erythrozyten  und  Thrombozyten  nicht  sicher  durch  ihre  Größen unterscheiden  lassen,  wie  bei  Krankheiten  mit  sehr  großen  und vermehrten Thrombozyten (z.B. essentielle Thrombozythämie).
Das Problem hat damit begonnen, dass Blutbildparameter wie die  Retikulozytenzahl  zum  indirekten  Dopingnachweis  von  Blutdoping oder Erythropoietin eingesetzt wurden. Im Grunde genommen ist dies sinnvoll, es bleibt jedoch ein indirekter Nachweis, der methodisch aufwendig und schwierig ist. Dazu wurden in rascher Abfolge  verschiedene  wissenschaftliche  Analysemethoden  entwickelt, die in den seit 2010 gültigen WADA-Guidelines für den „Blood Passport“ mündeten.
Gleichzeitig wurde aber munter darauflos gemessen und das Resultat  einer  solchen  gewaltigen  Messarbeit  ist  der  „PechsteinCase“. Wir haben schon seit Jahren in der DZSM gewarnt, dass bei solchen Messungen nach bewährten wissenschaftlichen Regeln die Untersuchungsbedingungen  beachtet  werden  müssen  und  Messwerte nicht wahllos morgens und abends, nüchtern und postprandial, vor und nach dem Training, vor und nach dem Höhenaufstieg vermischt  werden  dürfen.  Ansonsten  werden  im  Bestreben,  die größtmögliche  Informationen  aufzuhäufen,  genau  die  Informationen verschüttet, die man zu  sammeln  glaubt.  So hat die International Skating Union (ISU) in vielen Jahren trotz eines eigenen Blutbildautomatenund hohem  Geldaufwand  nur einen Fall produziert, den „Pechstein-Case“.
Was  ist  das  Spezifische  des  „PechsteinCase“?  Wir  haben  dies  in der  DZSM  sorgfältig  untersucht  und  mit  vielen Beteiligten  gesprochen, Dokumente  gesammelt und Gutachter hinzugezogen. In diesem Heft stehen Beiträge, Kommentare und Leserbriefe,  die  zusammen mit anderen Gutachten  dokumentieren,  dass die  von  ISU  und  „Court of  Arbitration  for  Sport“ (CAS)  als  wahrscheinlich angenommene Hypothese eines  niederschwelligen Erythropoietin-Doping sehr  unwahrscheinlich  ist und die Befunde mit einer subklinischen Störung der Erythrozytenmembran und  einer  subklinischen Anämie  vereinbar  sind. Wieso  ignorieren  ein  Verband und ein Gericht wissenschaftliche  Evidenz? An  dieser  Stelle  kommen die Psychologie und die Medien ins Spiel.
Ebenfalls  dürfte  die  Konkurrenzsituation  im  sportlichen Wettkampf, Niederlande versus Deutschand, mit lange Zeit übermächtigen  deutschen  Skaterinnen  eine  Rolle  spielen.  Man  kann als Außenstehender nur spekulieren, dass offenkundig der freundschaftlich sportliche Kontakt und die Zusammenarbeit vergessen wurde. Wenn nun ein Lager dem anderen Lager einen solch massiven Dopingnachweis vorwerfen kann, entsteht schnell ein Rechtfertigungsdruck aufgrund der eigenen Vorwürfe, die durch Anhänger und die Presse verstärkt und in einem crescendo immer weiter gesteigert werden, bis Evidenzen nicht mehr kritisch bewertet und wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert werden.
Diese Emotionalisierung zerstört einen sinnvollen Diskurs und vielleicht auch die emotionsfreie Anwendung des Rechts. Hier hat das  beschuldigte  Pechstein-Lager  wohl  vollkommen  die  Realität missachtet, dass die ISU eine Anti-Dopingorganisation mit eigener Rechtsprechung  darstellt,  somit  auch  im  Anti-Doping-Verfahren den vollen Respekt verdient. Auch ist das gesamte Verfahren nur ein Zweistufiges. Dies bedeutet, dass der CAS die einzige und endgültige  Berufungsinstanz ist.
Nun  kann  beim  Kriminalverfahren  der  Beschuldigte  schweigen,  um  sich  nicht  zu  belasten.  Wie  wir  schon  im  Januar  diskutiert  haben,  geht  es  im  Anti-Doping-Verfahren  primär  nicht  um die  Schuld,  sondern  um  die  Erklärung  von  Befunden.  So  kommt es dann im Anti-Doping-Verfahren schnell zur Beweisumkehr. Das gilt  insbesondere,  wenn  aufgrund  geplanter  Wettkämpfe  und  der Olympiaqualifikation  ein  enormer  Druck  entsteht  und  die  engen Fristen  nicht  beachtet  werden.  Es  ist  immer  schädlich,  wenn  die eigene Entourage und man selbst außerhalb des Saales die Medien zu instrumentalisieren versuchen, möge man sich noch so im Recht und unschuldig fühlen. Stimmungsmache führt schnell zur emotionalen  Belastung  des  gesamten  Verfahrens  und  zur  Verdeckung der sachlichen Argumente. Wer Stimmungen instrumentalisieren will, auch wenn er sich im Recht fühlt, wird schnell selbst davon instrumentalisiert.
Die Emotionalisierung, das unglaubliche Medieninteresse und der Zeitdruck, ausgeübt durch die Pechstein-Partei mit wiederholten Eilanträgen  zur  Olympiaqualifikation  und  Vorveröffentlichungen von Gutachten, setzen den CAS unter  Rechtfertigungsdruck. Mögliche Schadensersatzforderungen belasten alle Prozessbeteiligten, so auch die ISU. Wenn man das Gericht unter Druck setzen will, überhöht  man  den  Konflikt  unnötigerweise.  Es  geht  dann  nicht mehr um den Fall, sondern um die Macht und Stellung der Institutionen. Beobachter werden sich verwundert fragen, weshalb der CAS  die  Einführung  von  Beweismitteln  und  die  Benennung  von Gutachtern verwehrte, u.a. mit Bezug auf den CAS-Code „no new evidence“, den Ablauf von Fristen und die prozeduralen Standards. Wieso war es offenkundig nicht möglich, in Ruhe Evidenzen und Befunde zu diskutieren? Schon im Herbst 2009 haben unbeteiligte Beobachter geraten, nicht mehr primär um die  Olympiaqualifikation zu streiten, sondern den eigenen guten Ruf und den Arbeitsplatz beim öffentlichen Arbeitgeber als  Hauptpriorität zu sehen.
Die Verantwortung an dieser Emotionalisierung liegt aber auch bei den Medien, die fast durchweg die Pflichten zu einer objektiven Berichterstattung verletzt haben. Nichts scheint interessanter als der  tiefe  Fall  einer  Sportikone  und  gerade  bei  Claudia  Pechstein kann man den so schön demonstrieren. Die Pechstein-Partei liefert alles, was dazu benötigt wird. Hinzu kommen „Anti-Doping-Experten“, die Fachkenntnis durch Demagogie ersetzen und mit beispielloser Arroganz anerkannte Experten und Gutachter im Gebiet der Hämatologie abqualifizieren und über die Beschuldigte öffentlich „richten“. Gerade diese „Experten“ waren wohl mehr an der eigenen Profilierung  interessiert  und  missbrauchten  die  Skandalisierung als  Nachweis  der  eigenen  „wissenschaftlichen“  Bedeutung.  Medien und öffentliche Meinung waren und sind fasziniert. Nüchterne Stimmen kommen kaum mehr zu Wort.
Ärzte fragen sich, wieso stand das „nihil nocere“ nicht mehr im Vordergrund des Bemühens?
Wir  legen  mit  diesem  Heft  eine  –  sicherlich  unvollständige – Dokumentation vor, in der Hoffnung deutlich machen zu können,  dass  der  Anti-Doping-Kampf  nur  dann  erfolgreich  sein kann,  wenn  künftige  Verfahren  wissenschaftliche  Erkenntnisse anerkennen  und  von  einer  emotionalen  Berichterstattung  und Stimmungsmache unberührt bleiben.

LITERATUR

  1. http://www.wada-ama.org/Documents/Resources/Guidelines/WADA_AthletePassport_OperatingGuidelines_FINAL_EN.pdf
  2. http://www.wada-ama.org/Documents/Resources/Guidelines/WADA_Guidelines_Blood_sample_Collection_July2010_EN.pdf
  3. Steinacker JM Gut oder Böse? Fairness und neue Dilemmata im AntiDoping-Kampf. Dtsch Z Sportmed 61 (2010) 3.