Diastolische Funktion bei Athleten
EDITORIAL

Bewegungsanalyse – wesentliches Element moderner sportmedizinischer Diagnostik

Movement Analysis – an Essential Part of Modern Sports Medicine Diagnostics

Bewegung scheint der Schlüssel zur Gesundheit. Wenn es ein Medikament gäbe, das so wirkungsvoll wäre wie ein geeignetes körperliches Training, es wäre nach Hollmann das Medikament des Jahrhunderts (2). Zahlreiche Studien gerade in jüngster Vergangenheit haben die durchweg positiven Effekte von Bewegung für  die  Gesundheit,  das  Herz-Kreislauf-System,  die  Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit vieler Strukturen des menschlichen Körpers,  auf  die  Prävention  von  oder  auf  den  Heilungsverlauf  nach schweren Erkrankungen nachgewiesen oder deuten diese zumindest  an.  Die  Frage  ist  nur,  wer  kümmert  sich  eigentlich  um  die Bewegung, um den Zustand des Bewegungsapparates? Wer zeigt auf, wie hoch die Belastbarkeit, die Leistungsfähigkeit ist? Welche Belastungen  wann  positiv,  wann  aber  auch  negativ  wirken  können? Wer diagnostiziert die Parameter einer guten oder richtigen oder gesunden Bewegung? Und wer ist in der Lage, Defizite des Bewegungsapparates  aufzuzeigen,  Ursachen  und  Wirkungen  zu beschreiben  oder  Abhilfemöglichkeiten  wie  etwa  therapeutische Maßnahmen anzubieten?
Auf den ersten Blick wird dieses Problemfeld zumindest terminologisch  von  der  sportmedizinischen  Leistungs-  und  Funktionsdiagnostik abgedeckt. Erst bei genauerer Betrachtung offenbart sich ein gravierendes Defizit.
In der sportmedizinischen Diagnostik lassen sich zwei Bereiche  voneinander  separieren,  die  kardiologisch-internistische  und die  orthopädisch-traumatologische  Diagnostik.  Beide  verfügen über  ein  umfassendes  Spektrum  von  klinischen  und  apparativen Untersuchungsverfahren zur Erfassung der Leistungs- und Funktionsfähigkeit ebenso wie von pathologischen Auffälligkeiten. In einem gerade für Sportler ganz entscheidenden Punkt unterscheiden sich die beiden Bereiche jedoch ganz erheblich voneinander: In der Analyse des Sportlers unter Belastung.
Auf der einen Seite kann die kardiologisch-internistische Diagnostik den Sportler auf der gesamten Bandbreite vom Zustand der Ruhe bis hin zum Zustand der maximalen Belastung im Labor, wie auch im Feld untersuchen. Je nach gewähltem, apparativem Verfahren können jenseits von pauschalen Formeln z.B. für das Herz-Kreislauf-System die momentanen individuell-optimalen wie maximalen Leistungsparameter  genauso  bestimmt  werden,  wie  Auffälligkeiten oder pathologische Veränderungen. Die Ergebnisse dienen als Grundlage  für  eine  individuelle  Trainingsgestaltung,  ebenso  als Grundlage für zielgerichtete therapeutische Maßnahmen.
Demgegenüber beschränkt sich die orthopädisch-traumatologische Diagnostik überwiegend auf die Untersuchung des Sportlers in  Ruhe.  Die  klinische  Untersuchung  erfasst  wichtige  Parameter wie  Bewegungsumfänge  und  Muskelfunktionen,  ebenso  grob  die Kraftfähigkeiten oder orientiert neurologische Parameter. Zur Ergänzung und Absicherung der Befunde kommen häufig bildgebende Verfahren, wie Röntgen, Kernspin- oder Computertomographie zum Einsatz, durch die Schädigungen in bestimmten Körperregionen  aufgedeckt  und beschrieben  werden  können. Wie sich diese Befunde jedoch unter andauernder oder maximaler Belastung innerhalb eines  bestimmten  Bewegungsablaufes auswirken, kann mit den genannten Verfahren nur vermutet  werden.  Der  Sportler erfährt seine Beschwerden jedoch  meist  nicht  in  Ruhe, sondern erst in der Bewegung und  dort  teilweise  erst  nach längerer  Beanspruchung. Diesem Problem kann die orthopädisch-traumatologische Diagnostik jedoch erst dann wirklich gerecht werden, wenn sie den Sportler direkt bei seinem Problem, d.h. auch in seiner Bewegung analysiert. Gerade hier herrscht ein enormer Nachholbedarf.
Die  Ursache  für  dieses  Diagnose-Defizit  dürfte  im  Wesentlichen in zwei Aspekten begründet sein. Während die internistischkardiologische Diagnostik wesentliche Vitalfunktionen und damit ureigenste  Bereiche  der  Medizin  umfasst,  handelt  es  sich  bei  der Bewegungsanalyse  um  einen  Bereich  mit  Ursprung  in  der  Sportwissenschaft, der nicht Gegenstand der medizinischen Ausbildung ist. Zum anderen dienten Bewegungsanalysen in den vergangenen Jahrzehnten  vorwiegend  der  Sportwissenschaft  als  Verfahren  zur Erfassung  und  Bestimmung  von  leistungsrelevanten  Bewegungsparametern sowie zur Optimierung von Bewegungstechniken. Sie waren aufgrund technischer Limitationen und hohen Analyseaufwandes  weder  geeignet  noch  in  der  Lage,  Informationen  zeitnah zur Verfügung zu stellen.
Insbesondere in den letzten 15- 20 Jahren hat sich diese Situation jedoch grundlegend geändert. Durch die rasante technische Entwicklung steht in der Zwischenzeit eine Reihe von weitgehend einfach  zu  bedienenden  Gerätschaften  zur  Verfügung,  die  umfassende  und  problemorientierte,  instrumentierte  Bewegungsanalysen  ermöglichen  und  einen  großen  therapeutischen,  wie präventiven Benefit versprechen. Doch wie sieht eine zeitgemäße Bewegungsanalyse aus? Was kann sie leisten und worin genau besteht der erhoffte Benefit?
Die überwiegende Mehrzahl sportlicher Aktivitäten vom Gesundheits- bis zum Hochleistungssport basiert auf den elementarsten Fortbewegungsarten des Menschen: Gehen und Laufen. Genau hierin äußert sich ein Großteil der Beschwerden und somit bieten sich  vorrangig  instrumentierte  Gang-  und  Laufanalysen  an.  Die zugehörigen  Verfahren  sowie  Normwerte  und  Gangpathologien zur  Bewertung  der  Ergebnisse  basieren  im  Wesentlichen  auf  den Arbeiten von Perry, Whittle und Winter (4, 7, 8). Doch obwohl die Ganganalyse als gut entwickelter Gegenstandbereich mit eigenen Fachgesellschaften  gilt  (5),  ist  ein  einheitlicher  Analysestandard bis heute nicht erreicht. Hierfür sind im Wesentlichen drei Gründe anzuführen: Die Komplexität menschlicher Bewegung mit ihrer Vielzahl von Freiheitsgraden, ihre Individualität und somit die Abweichung von der Norm als Normalfall und nicht als Defizit sowie die  fehlende  oder  unausgesprochene  Einsicht,  dass  genau  diese Komplexität und Individualität den Wunsch nach schnellen Ergebnissen und einfachen kausalen Zusammenhängen verhindert (1, 3). Als  Konsequenz  ist  eine  individuell  orientierte,  instrumentierte biomechanische Bewegungsanalyse als Erweiterung der orthopädisch-traumatologischen Diagnostik zu fordern, quasi in Analogie etwa zur internistisch-kardiologischen Spiroergometrie.
Der individuelle Ansatz unter Einbeziehung von Normwerten erfordert zwar hohen Aufwand und Sachkompetenz, dafür wird er dem Trend nach individualisierter Medizin folgend dem einzelnen Sportler oder Patienten und seinem Problem am besten gerecht. Soll diesem Ansatz ein Leitbild gegeben werden, dann lässt sich dieses am ehesten mit dem Ziel einer individuellen Norm, die sich vorwiegend in der Symmetrie einer Bewegung ausdrückt, umschreiben.
Eine individuell orientierte Bewegungsanalyse erfordert allerdings eine detektivische Kleinarbeit. Eine Vielzahl von Parametern ist  ähnlich  einem  Puzzle  zu  einem  Gesamtbild  zusammenzusetzen. Zwar lassen sich schon mit einer Kamera und entsprechenden Programmen  erste  wichtige  Parameter  wie  z.B.  Gelenkwinkel  in verschiedenen Bewegungsphasen analysieren. Je komplexer jedoch das verfügbare Instrumentarium, umso höher ist auch die Genauigkeit und Aussagekraft der Analyse.
Erst in der Dynamik des Gehens oder Laufens lassen sich mit kinematischen Verfahren von der Videoanalyse bis hin zur 3D-Bewegungsanalyse Auffälligkeiten erkennen, die dem menschlichen Auge  verborgen  bleiben.  Dynamometrische  Kraft-Zeit-Kurven geben  problematische  Bewegungsphasen  und  übermäßige  oder einseitige  Belastungen  zu  erkennen.  Mittels  Elektromyographie wird die intra- und intermuskuläre Koordination ebenso sichtbar wie  auffällige  Aktivierungsmuster.  Die  Pedographie  hilft  bei  der Diagnose von Fehl- oder Überbelastungen im Abrollvorgang des Fußes (3, 6).
Nur die Abbildung der Bewegung in ihrem zeitlichen Verlauf ermöglicht eine genaue Ursache-Wirkungs-Analyse in den beteiligten Gelenkketten sowie im Zusammenwirken zwischen den unteren Extremitäten als Antriebseinheit und dem Oberkörper als Passagiereinheit.  Muskuläre,  ligamentäre  oder  fasziale  Ursachen  von Problemen lassen sich damit ebenso eingrenzen wie Ursachen von Rückenschmerzen.  Präventiv  können  frühzeitige  Interventionen Schädigungen  des  Bewegungsapparates  vermeiden  oder  hinauszögern helfen. Rehabilitativ können Veränderungen aufgezeigt, verbleibende  Defizite  abgeschätzt  und  therapeutische  Maßnahmen unterstützt werden.
Neben den Möglichkeiten sind aber auch die Grenzen der eingesetzten Messmethoden zu beachten. Die Kinematik beschreibt äußerst genau die Bewegung des Körpers in Raum und Zeit, liefert jedoch  keinerlei  Informationen  über  die  dabei  wirkenden  Kräfte oder muskuläre Aktivitäten. Die Kinetik liefert exakte Daten zum Kraft-Zeit-Verlauf und zum Impuls einer Gesamtkörperbewegung, welche Körperteilbewegungen und welche Muskeln einen Beitrag dazu  geleistet  haben,  ist  jedoch  nicht  ersichtlich.  Ein  Laufband ermöglicht  im  Gegensatz  zu  einer  Gangbahn  die  Analyse  vieler  Bewegungszyklen,  die  Diskussion  um  die  Vor-  oder  Nachteile beider  Möglichkeiten  ist  jedoch  noch  nicht  abgeschlossen.  Erst die Kombination mehrerer Methoden ergibt ein umfassendes Gesamtbild  (3).  Werden  die  Limitationen  beachtet,  dann  steht  ein äußerst mächtiges Instrumentarium bereit, mit dem sich das Spektrum  der  orthopädisch-traumatologischen  Diagnostik  in  wesentlichen  Punkte  erweitern  und  das  eingangs  beschriebene  Defizit beheben lässt.
Auch  wenn  sukzessive  immer  mehr  Einrichtungen  Bewegungsanalysen anbieten, so ist die Gesamtzahl immer noch gering und bleibt auf absehbare Zeit nur wenigen Sportlern bzw. Patienten vorbehalten. Hier sollten in Zukunft vermehrt Anstrengungen unternommen  werden,  dieses  wichtige  Feld  in  der  Praxis  zu  etablieren.  Zudem  sind  auf  verschiedenen  Ebenen  Anstrengungen zu  unternehmen,  verbesserte  Abrechnungsmöglichkeiten  für  die Analysen  zu  schaffen.  Der  Benefit  besteht  in  einer  besseren  und vor allem nachhaltigeren Versorgung und Betreuung von Sportlern und Patienten.

LITERATUR

  1. Freiwald J, Engelhard M Stand des motorischen Lernens und der Koordination in der Orthopädisch-traumatologischen Rehabilitation. Sport Orthop Traumatol 18 (2002) 5- 10.
  2. Hollmann W, Strüder HK Sportmedizin. Schattauer Verlag, Stuttgart, 2009.
  3. Jöllenbeck T Gait- and treadmill-analysis. In: Engelhardt M, Dorr A (Eds.): Sports Orthopedics – Official Manual of GOTS, Neunplus1, Berlin, 2011, 125- 136.
  4. Perry J Ganganalyse – Norm und Pathologie des Gehens. Urban & Fischer, München, Jena, 2003.
  5. Rosenbaum D Klinische Ganganalyse in der Orthopädie und Traumatologie. In: Jerosch J, Nicol K Peikenkamp K (Hrsg.): Rechnergestützte Verfahren in Orthopädie und Unfallchirurgie, Steinkopff, Darmstadt, 1999, 145- 158.
  6. Vogt L, Banzer W Instrumentelle Ganganalyse. Dtsch Z Sportmed 56 (2005) 108- 109.
  7. Whittle MW Gait analysis – an introduction. 3rd Ed, ButterworthHeinemann, Oxford, 2002.
  8. Winter DA The biomechanics and motor control of human gait. 2nd Ed, Waterloo Biomechanics, Waterloo, 1991.