Sportmedizin & Leistungssport
EDITORIAL

Herausforderungen an die Talentforschung im Fußball

Challenges in Soccer Talent Research

Die zurückliegende Europameisterschaft und Champions League (CL) Saison haben es wieder einmal gezeigt: Der Spitzenfußball hat eine enorme Qualität erreicht. Zudem zeigt sich eine große Leistungsdichte. So mussten sich beide EM-Finalteilnehmer über Elfmeterschießen den Weg ins Endspiel bahnen. Auch beide CL-Finalteilnehmer benötigten Elfmeterschießen, um das Finale zu erreichen (Bayern München) bzw. das Finale zu gewinnen (Chelsea London). Die letzten Jahre belegten zudem, dass unterschiedliche Spielphilosophien zum Gewinn der Champions League führen können. So zeigen die Defensivstrategien von Inter Mailand (2010) und Chelsea London (2012) nur wenige Gemeinsamkeiten mit dem offensiven Ballbesitzspiel des FC Barcelona (2009, 2011). Gemeinsam war jedoch sämtlichen Erfolgen, dass sie auf einer hohen Qualität von Einzelspielern basierten.
Derzeit besitzt der deutsche Fußball wieder zahlreiche Spieler mit herausragenden fußballerischen Stärken. Warum dies international (noch?) nicht zu einem der erhofften Titelgewinne geführt hat und ob sich diese Frage überhaupt – sei es auf Basis wissenschaftlicher Betrachtungen oder auf Basis der Expertenanalysen – systematisch beantworten lässt, sei dahingestellt. Eine wesentliche Ursache für die gestiegene Qualität der Einzelspieler ist offensichtlich das DFB-Talentförderprogramm, das vor genau zehn Jahren initiiert wurde. In diesem Programm werden an 366 Stützpunkten etwa 14000 D-/C-Jugendspieler von 1000 Honorartrainern und 29 hauptamtlichen Stützpunktkoordinatoren bundesweit gefördert. Fortgeführt wird diese flächendeckende Maßnahme durch die DFB-Eliteförderung in den U-Nationalmannschaften und Leistungszentren der Profiklubs (1).
Hoch ausgeprägte Schnelligkeitsfähigkeiten sowie eine herausragende Technik sind wesentliche Merkmale von Fußballtalenten. Im DFB-Stützpunktprogramm bildet daher – neben einem einheitlichen Ausbildungsleitfaden, der sich strikt an der individuellen Förderung der Talente orientiert – eine halbjährliche technomotorische Leistungsdiagnostik einen wesentlichen Bestandteil. Dieses besteht aus Schnelligkeitstests ohne Ball (20-Meter-Sprint, Gewandtheitslauf) sowie aus Techniktests mit Ball (Dribbling, Ballkontrolle, Balljonglieren, Torschuss) (2). Das DFB-Talentförderprogramm wird auf Basis dieser Testbatterie von den sportwissenschaftlichen Instituten der Universitäten Tübingen und Heidelberg begleitet. Zentrale Arbeitsschwerpunkte liegen in der Bereitstellung aussagekräftiger Ergebnisrückmeldungen (jedes Stützpunkttalent erhält ein „Zeugnis“ über sein aktuelles Leistungsniveau sowie Entwicklungsprofil), der Evaluation der technomotorischen Diagnostik (z.B. wissenschaftliche Analyse der Prognoserelevanz) sowie der Erweiterung der Diagnostik (z.B. Einbindung einer psychologischen Diagnostik).
Die wissenschaftliche Evaluation der Diagnostik zeigt, dass die Testverfahren ohne Ball reliablere (zuverlässigere) Ergebnisse als die Tests mit Ball liefern. Ungeachtet dessen trennen der Dribbling- und Ballkontrolltest deutlicher zwischen Spielern mit unterschiedlichem Leistungsniveau. Diese beiden Techniktests besitzen dementsprechend eine höhere diagnostische und prognostische Eignung als die beiden Schnelligkeitstests ohne Ball. Die Testbatterie als Ganzes kann eine gruppenbezogene diagnostische Validität in dem Sinne beanspruchen, dass sie unterschiedlich leistungsstarke Gruppen differenziert ( Jugendnationalspieler, Leistungszentrumsspieler, Stützpunktspieler). Zudem zeigten im Längsschnitt heutige Jugendnationalspieler bereits vor Jahren im D-Jugendalter an den Stützpunkten weit überdurchschnittliche Testleistungen. Spieler mit sehr guten Testergebnissen erreichen also zukünftig mit größerer Wahrscheinlichkeit ein hohes Leistungsniveau.
Das Fazit der bisherigen Analysen ist damit nicht so ernüchternd, wie es nach anfänglicher Euphorie häufig in der sportwissenschaftlichen Talentforschung gezogen wurde („Talentprognose ist nicht möglich“): Es gibt offensichtlich Merkmale mit einer Prognoserelevanz. Allerdings ist diese Relevanz noch nicht hinreichend, um im Einzelfall verlässliche Vorhersagen vollziehen zu können. Wie allgemein in der Sozialwissenschaft können auch in der Talentforschung nur Wahrscheinlichkeitsaussagen mit zusätzlicher „ceteris paribus“-Bedingung aufgestellt werden. Diese Zusatzbedingung ist in der Praxis aber selten gegeben. Daher gibt es natürlich Spieler, die trotz herausragender Testleistungen den Sprung „nach oben“ nicht schaffen oder trotz mäßiger Testleistungen im D-Jugendbereich später Jugendnationalspieler werden.
Herausforderungen zur Verbesserung der Talentprognose bestehen u.a. in der geeigneten Merkmalsauswahl. Die bisher genannten personalen Talentmerkmale können nur einen Mosaikstein des Talents abbilden. Für verlässlichere Prognosen sind Erweiterungen der Merkmalsbereiche notwendig (z.B. physiologische Parameter, psychologische Persönlichkeitsmerkmale und Kompetenzen). Zudem sind zukünftig Umweltfaktoren stärker zu berücksichtigen. Zu ihnen gehören – neben Elternhaus, Schule etc. – die Trainer, die nicht nur im Spitzensport, sondern auch in der Talentförderung den „Schlüssel zum Erfolg“ darstellen (1). Die Beurteilung der Qualität des Trainerhandelns ist besonders im Nachwuchsleistungssport ein schwieriges Unterfangen, dem die Forschung in Zukunft mehr Aufmerksamkeit schenken sollte.
Ein weiterer wichtiger Faktor der Talentforschung besteht in der Güte, mit der die als relevant angesehenen Merkmale erfasst werden. Die Forschung hat hierzu zahlreiche Überblicksarbeiten zu Stärken und Schwächen von Tests sowie konkretere methodische Empfehlungen zur Durchführung von Tests im Fußball bereitgestellt (3, 4). Neben diesen allgemeinen Hinweisen gilt es mit dem „relativen Alterseffekt“ ein spezifisches Problem der Talentdiagnostik zu berücksichtigen. Offensichtlich werden in der Talentsichtung Spieler, die innerhalb eines Jahrgangs früher geboren und damit einige Monate älter sind, bevorzugt gesichtet – und dies obwohl nur wenig dafür spricht, dass „Januarkinder“ fußballerisch talentierter sind als „Dezemberkinder“. Die Sportwissenschaft widmet sich diesem Problem in jüngerer Zeit besonders intensiv (5), sollte aber zukünftig vermehrt in der Praxis durchführbare und wissenschaftlich zu evaluierende Interventionsansätze entwickeln.
Eine besondere Herausforderung der Talentprognose stellt die Frage der differenziellen Stabilität der Persönlichkeitsfaktoren: Inwiefern sind die Talente, die heute in bestimmten Merkmalen herausragend sind, auch in ein paar Jahren noch die Besten? Längsschnittanalysen im DFB-Stützpunktprogramm zeigen selbst im hochreliablen 20-Meter-Sprint im 3-Jahresintervall nur einen Stabilitätskoeffizienten von r =0,5. Dementsprechend ist insbesondere bei Vorhersagen, die sich auf sehr langfristige und entwicklungsrelevante Phasen (Pubertät) beziehen, mit differenziellen Instabilitäten in den Prognosevariablen zu rechnen. Darüber hinaus ändern sich über einen Prognosezeitraum vom D-Jugendalter bis in Hochleistungsalter situative Faktoren: Wer weiß schon heute, wie der Fußball in zehn Jahren aussieht, welche taktischen Systeme mit welchen Anforderungsprofilen gespielt werden?
In der „Endabrechnung“ stellen für einen Verband die Anzahl und Qualität der Spieler, denen der Übergang auf das Spitzenniveau gelingt, zentrale Indikatoren für die Effektivität seines Nachwuchsfördersystems dar. In diesem Sinne hat der DFB vor zehn Jahren ein erfolgreiches Talentförderprogramm initiiert (aus deutscher Sicht bleibt zu hoffen, dass sich dies in nicht allzu langer Zeit auch in internationalen Titeln wiederspiegelt). Zukünftige Talente werden es jedoch aufgrund der gestiegenen Qualität der heutigen Generation schwerer haben, den Sprung in die Elite zu schaffen. Daher bedarf es weiterer Optimierung in der Talentförderung. Die sportwissenschaftliche und sportmedizinische Forschung ist aufgefordert, ihren sportartübergreifenden und -spezifischen Beitrag zur Optimierung der Talentförderung zu leisten. Die hier kursorisch aufgezeigten Betrachtungen zeigen dabei nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus der sportwissenschaftlichen Talentforschung ( für einen sportartübergreifenden Überblick (6)).
Der DFB sucht nicht nur im Bereich der Talentförderung nach wissenschaftlicher Unterstützung. Zur Koordinierung dieser Suche wurde 2009 eine AG Wissenschaft eingerichtet. Darüber hinaus veranstaltet der DFB am 24./25. Januar 2013 seinen zweiten Wissenschaftskongress, bei dem vielfältige Erkenntnisse zum Fußballsport präsentiert werden. Im Vorfeld dieses Wissenschaftskongresses wird die Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin (Gasteditoren: Prof. Dr. Büch/ Prof. Dr. Kindermann) ein Themenheft zu neuesten sportmedizinischen Erkenntnissen im Fußballsport herausgeben.

LITERATUR

  1. DFB Talente fordern und fördern! Konzepte und Strukturen vom Kinder- bis zum Spitzenfußball, 2009. [http://talente.dfb.de/index.php?id=518883].
  2. Lottermann S, Laudenklos P, Friedrich A, Metaxas I, Tritschoks J, Ferrauti A, Weber K Technikdiagnostik und Techniktraining im Fußball. in: Neumann G (Hrsg.): Fußball vor der WM 2006: Spannungsbogen zwischen Wissenschaft und Organisation. Sport und Buch Strauß, Köln, 2003, 91 - 105.
  3. Ali A Measuring soccer skill performance: a review. Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports, 21 (2011) 170 - 183.
  4. Faude O, Schlumberger A, Fritsche T, Treff G, Meyer T Leistungsdiagnostische Testverfahren im Fußball – methodische Standards. Dtsch Z Sportmed 61 (2010) 129 - 133.
  5. Baker J, Schorer J, Cobley SP Relative age effects: an inevitable consequence of elite sport? Sportwissenschaft 40 (2010) 26 - 30.
  6. Neumann G Talentdiagnose und Talentprognose im Nachwuchsleistungssport (2. BISp-Symposium: Theorie trifft Praxis). Sportverlag Strauß, Bonn, 2009.