Klinische Sportmedizin
ORIGINALIA
KOMPLEMENTÄR - UND ALTERNATIVMEDIZIN IM SPORT

Die Nutzung von Komplementär- und Alternativmedizin im Spitzensport

The Use of Complementary and Alternative Medicine in Elite Sports

ZUSAMMENFASSUNG

Die sportmedizinische Versorgung im Spitzensport umfasst ein äußerst breites Spektrum an Behandlungsverfahren. So kommen neben schulmedizinischen Behandlungsmethoden auch häufig komplementär- und alternativmedizinische (CAM) Verfahren zum Einsatz. Wenig bekannt ist, wie diese Verfahren zu einem festen Bestandteil des Behandlungsspektrums von Athleten werden, wie die Athleten zu diesen Maßnahmen stehen, welche Nutzungserwartungen sie an medizinische Maßnahmen herantragen und wer sich hinter dem Einsatz bzw. der Empfehlung von CAM-Methoden verbirgt. Diese Fragen standen im Mittelpunkt der vorliegenden Studie. Die Stichprobe umfasste n=110 Athleten (63% männlich, 37% weiblich; Alter: 24,3±5,0 Jahre) verschiedener olympischer Sportarten mit hohem Leistungsniveau (20% Nationalmannschaft und/oder EM und/oder WM; 46,4% 1. Bundesliga und/oder DM; 33,6% 2. Bundesliga und/oder Landesmeisterschaften). Es wurden dabei Athleten mit (n(med)=69) und ohne (n(non)=41) vom Verein bereitgestellter medizinischer (ärztliche und physiotherapeutische) Betreuung unterschieden. Die Ergebnisse dieser Pilotstudie aus Athletenperspektive zeigen, dass CAM-Maßnahmen in der Praxis des Leistungssports häufig genutzt werden. Gleichzeitig zeigen sie auf, dass bei den Athleten ein geringes Bewusstsein dahingehend existiert, ob die eingesetzten Behandlungsmethoden alternativ- oder schulmedizinischer Herkunft sind. In diesem Kontext dominieren funktionale Nutzungserwartungen. Dabei spielt eine vereinsbasierte medizinische Betreuung eine wichtige Rolle hinsichtlich der Anwendung von CAM-Verfahren und fördert tendenziell sogar den Gebrauch komplementär- und alternativmedizinischer Verfahren.

Schlüsselwörter: Alternativmedizinische Behandlungsmaßnahmen, Spitzensportler, medizinische Betreuung, Physiotherapie.

SUMMARY

Sports medical care in elite sports comprises a broad variety of medical treatments. In addition to biomedicine, complementary and alternative medical (CAM) treatments are widely used. Not much is known about how these treatments become an integral part of the athletes' treatment spectrum, the athletes' opinion of these treatments, which expectations they have in using these treatments, and who is behind the administration or recommendation of CAM treatments. Accordingly, this study pays particular attention to these questions. The sample consisted of n=110 athletes (63% male, 37% female; age 24.3±5.0) in different Olympic sports with high performance levels (20% national team and/or European championship and/or world championship; 46.4% 1st national league and/or German championship, 33.6% 2nd national league and/or state championship). Regarding medical care, we distinguished between athletes who received (n(med)=69) or did not receive (n(non)=41) medical care from their athletic clubs. The results of this pilot study show that CAM plays a significant role in the daily practice of sports. At the same time, they show that the athletes are little aware of whether the treatments are CAM or biomedical based methods. Expectations of functional benefits are dominant. Club-based medical care plays an important role in the use of CAM treatments and even tends to promote the use of complementary and alternative medical methods.

Key Words: Alternative medical treatments, elite athletes, medical supply, physiotherapy.

EINLEITUNG

Aus der leistungssportlichen Praxis ist bekannt, dass viele Athleten offen für alternative, nicht evidenzgesicherte Behandlungsmaßnahmen sind, wenn diese versprechen, der sportlichen Leistung förderlich zu sein (2, 4, 5). Die Offenheit gegenüber alternativen Herangehensweisen bei Gesundheitsproblemen zeigt sich auch in der medizinischen Betreuung im Leistungssport (2, 5, 6). Es ist anzunehmen, dass dies nicht zuletzt an der hohen Bedeutung liegt, die in der sportmedizinischen Versorgung einer Sicherung sportlicher Funktionstüchtigkeit der Athleten zugemessen wird (10, 12, 13, 14). Dabei bewegt sich die sportmedizinische Versorgung im Spitzensport in einem Spannungsfeld zwischen medizinischer Verpflichtung zur langfristigen Gesunderhaltung der Athleten und dieser instrumentalisierten Verwendung zugunsten einer Leistungsoptimierung und -steigerung (1, 9). Standardisierte Methoden aus der klinischen Praxis erweisen sich hinsichtlich dieser Ausrichtung auf sportliche Funktionsfähigkeit allerdings nur als bedingt anschlussfähig (5). Schmitt (7) konstatiert vor diesem Hintergrund, dass sich aus der Perspektive der Sportpraxis ein guter Sportarzt dadurch auszeichne, zuzüglich zu den standardisierten Behandlungsmaßnahmen über „alternative Geheimwaffen“ zu verfügen.
Tabelle 1: Stichprobenbeschreibung.
Entsprechend überrascht es nicht, dass sich im Spitzensport ein vielfältiges Spektrum an Therapie- und Behandlungsmaßnahmen findet, das neben schulmedizinischen auch komplementär- und alternativmedizinische Behandlungsmethoden umfasst (4, 5, 9, 10). Komplementär- und Alternativmedizin (CAM) stellt dabei – wie vom National Center of Complementary and Alternative Medicine (NCCAM) (3) definiert und inhaltlich ausgeführt – eine Gruppe verschiedener medizinischer und gesundheitsbezogener Lehren, Praktiken und Produkte dar, die im Allgemeinen kein Teil der sogenannten Schulmedizin sind (3). In diesem Zusammenhang wird eine auf der sportärztlichen Handlungsebene synergistische Verbindung von CAM und Schulmedizin akzentuiert (6, 10). Analysen zu Entscheidungsprozessen bei gesundheitsbezogenen Fragen im Spitzensport deuten darauf hin, dass das medizinische Fachpersonal eine bedeutende Rolle beim Einsatz von CAM spielt (12). In wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Bereich der Sportmedizin wird die Anwendung alternativer Behandlungsmaßnahmen allerdings kritisch beäugt, vor allem aufgrund fehlender Evidenz (9). Es wird darauf hingewiesen, dass die Anwendung wissenschaftlich ungesicherter Verfahren außerhalb des ärztlichen Verantwortungsbereichs geschehe und vom Athleten selbst verantwortet werden müsse (9).
Bislang ist wenig darüber bekannt, wer für den Einsatz von CAM-Maßnahmen im Leistungssport verantwortlich ist, wie diese zu einem festen Bestandteil des Behandlungsspektrums werden und welche Rolle dabei die Erwartungen der Athleten an die medizinische Betreuung spielen. Diese Fragen sollen in vorliegender Pilotstudie gezielt aus Sicht der Athleten beantwortet werden. Dabei fragen wir zunächst nach dem Gesundheitsverständnis der Athleten und damit zusammenhängend, wie wichtig leistungsbezogene Erwartungen für die Athleten im Hinblick auf alternativmedizinische Leistungen sind. Anschließend gehen wir darauf ein, welche Verfahren genutzt werden und wer sich hinter der Entscheidung einer Anwendung verbirgt.

MATERIAL UND METHODE

Stichprobe
An der Studie nahmen n=110 Athleten (63% männlich, 37% weiblich; Alter 24,3±5,0 Jahre) unterschiedlicher Vereine und Regionen Deutschlands mit hohem Leistungsniveau teil (Tab. 1). Zur Erfasssung des medizinischen Verhaltens und der Versorgungssituation wurden einerseits verschiedene olympische Sportarten anhand der Sportarten-Gruppierung nach Sundgot-Borgen (8) ausgewählt. Diese basiert auf einer Differenzierung in die Kategorien „technical sports“ z.B. technische Disziplinen der Leichtathletik, „endurance sports“ z.B. Triathlon, „aesthetic sports“ z.B. Kunstturnen, „weight dependent sports“ z.B. Judo und „ball-game sports“ z.B. Handball, Tischtennis. Andererseits wurden Athleten (n(med) =69) mit einer festen vereinsbasierten medizinischen Betreuung, bestehend aus Allgemeinarzt und/oder Facharzt und/oder Physiotherapeut, sowie Athleten (n(non) =41) ohne feste vereinsbasierte medizinische Betreuung erfasst. Das medizinische Betreuungspersonal umfasst Physiotherapeuten und Ärzte verschiedener fachlicher Qualifikation in unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen.

Fragebogen
Die Fragen zum Gesundheitsverständnis orientierten sich an dem Untersuchungsinstrumentarium der GOAL-Study-Group (11). Die Itemsammlung und die Kategorisierung der CAM-Verfahren basieren auf der Definition des NCCAM (3) und wurden um klassischphysiotherapeutische Verfahren gemäß der PhysTh-APrV ergänzt.

Statistische Analyse
Dem explorativen Charakter der Studie entsprechend stand die deskriptive Auswertung im Mittelpunkt. Die statistische Bedeutsamkeit von Unterschieden in Abhängigkeit von medizinischer Betreuung, Geschlecht und Leistungsniveau wurden mit Hilfe von Chi2 –Tests bzw. einfaktoriellen, multivariaten Varianzanalysen geprüft. Das Signifikanzniveau α wurde bei p<0,05 angesetzt. Um bei inhaltlich verbundenen Einzelvergleichen die Alpha-Fehler-Kumulierung zu neutralisieren, wurden Bonferroni-Korrekturen durchgeführt. Die deskriptiven Ergebnisse sind als Mittelwert ± Standardabweichung (MW±SD) angegeben und basieren auf 5-fach gestuften Likertskalen (1=keine Zustimmung, 5=volle Zustimmung). Zur Prüfung der praktischen Bedeutsamkeit wurden Effektstärken (partielles EtaQuadrat η2) berechnet.

ERGEBNISSE

Gesundheitsverständnis und leistungsbezogene Erwartungen an die Nutzung medizinischer Maßnahmen
Gesundheit wird bei der gesamten Stichprobe vor allem als ein Zustand körperlicher Funktions- und Leistungsfähigkeit (4,5±0,7) verstanden und mit einem Fehlen von Krankheit und Verletzung (4,2±1,0) assoziiert. Gesundheit stellt aus Athletensicht das höchste Gut dar (4,4±0,9), wobei sie in hohem Maße der Meinung sind, dass Gesundheit aktiv beeinflussbar sei (4,4±0,8). Dieses Gesundheitsverständnis erklärt, dass funktionale Erwartungen, wie z.B. eine schnellere Regeneration (3,5±1,5), bessere Belastbarkeit (3,2±1,5) sowie Steigerung der Leistungsfähigkeit (3,2±1,5) eine wichtige Rolle auch im Hinblick auf die Nutzung alternativmedizinischer Verfahren spielen. Hinsichtlich dieser drei Funktionen zeigen sich signifikante Unterschiede in Abhängigkeit von der medizinischen Betreuung und des Geschlechts, nicht aber vom Leistungsniveau. Für Athleten mit medizinischer Betreuung haben medizinische Maßnahmen eine signifikant höhere Relevanz bezüglich der Verbesserung der Belastbarkeit (Gruppe(med): 3,4±1,4; Gruppe(non): 2,7±1,5; F=6,9; p=0,10; η2=0,06), sowie Steigerung der Leistungsfähigkeit (Gruppe(med): 3,5±1,4; Gruppe(non): 2,6±1,6; F=9,2; p=0,003, η2=0,08). Außerdem messen männliche Athleten medizinischen Maßnahmen eine signifikant höhere Bedeutung in Hinblick auf eine Steigerung der Leistungsfähigkeit (Gruppe(männlich): 3,4±1,5; Gruppe(weiblich): 2,7±1,4; F=6,0; p=0,016; η2=0,05) bei.

Tabelle 2:CAM: Angabe einer allgemeinen Anwendung, der eigenen Nutzung sowie der Gebräuchlichkeit in der eigenen Sportart (%).

Tabelle 3: Klassisch-physiotherapeutische Verfahren: Angabe einer allgemeinen Anwendung von CAM, der eigenen Nutzung sowie der Gebräuchlichkeit in der eigenen Sportart (%).
Nutzung medizinischer Verfahren

Die direkte Frage, ob CAM genutzt wird, bejahten lediglich 30,9% der Athleten. Dies steht in Diskrepanz zu den Angaben, die bei den vorgegebenen Verfahren gemacht wurden. Hier gaben 97,3% der Athleten bei mindestens einem der erhobenen Verfahren, die laut NCCAM der CAM zuzurechnen sind, eine eigene Nutzung an. Hinsichtlich der in der offenen Frage genannten CAM-Verfahren, zeigt sich mit 80% ebenso eine deutlich höhere tatsächliche Anwendung. Die Ergebnisse veranschaulichen außerdem, dass viele CAM-Verfahren von den Athleten als sehr gebräuchlich in der eigenen Sportart angesehen werden (Tab. 2).
Die Auswertung der offenen Frage offenbart ein geringes Bewusstsein der Athleten darüber, ob ein Verfahren der CAM oder Schulmedizin zuzuordnen ist (Tab. 3).
Hinsichtlich der Nutzung von CAM können Unterschiede in Abhängigkeit von der vereinsbasierten medizinischen Betreuung, des Geschlechts und des Leistungsniveaus ausgemacht werden. Athleten mit medizinischer Betreuung wenden in signifikant höherem Maße die Einzelverfahren Nahrungs-ergänzungsmittel (NEM)-Einzelsubstanzen (χ² =11,3; p=0,001), NEM-Komplexprodukte (χ² =8,1; p=0,004), Sportnahrung (χ² =10,5; p=0,001), Sportgetränke (χ² =19,2; p<0,001), Osteopathie (χ² =6,7; p=0,010), Kinesiologie (χ² =13,0; p<0,001), Kinesiotaping (χ² =5,5; p=0,019), spezielle Funktionskleidung (χ² =16,2; p<0,001) und Entspannungsverfahren (χ² =6,6; p=0,010) an. Dies kann ebenso hinsichtlich der gesamten Gruppe „Manipulative, body-based Therapies“ (χ² =13,0; p<0,001) und „Ernährungstherapie“ (χ² =5,0; p=0,025) festgestellt werden.
Signifikante Unterschiede zeigen sich in Abhängigkeit vom Leistungsniveau bezüglich der einzelnen Verfahren NEM-Komplexprodukte (χ² =17,8; p<0,001), spezielle Funktionskleidung (χ² =13,9; p=0,001) und Entspannungsverfahren (χ² =6,1; p=0,048) sowie der Gruppe „Manipulative, body-based Therapies“ (χ² =9,8; p=0,007). Auch hinsichtlich des Geschlechts werden signifikante Einflüsse sichtbar. Während Frauen signifikant stärker Anthroposophische Medizin (χ² =7,3; p=0,007), Homöopathie (χ² =12,0; p=0,001), Traditionelle Hausmittel (χ² =9,3; p=0,002), Schüsslersalze (χ² =14,3; p<0,001), Bachblüten (χ² =9,0; p=0,003) und Osteopathie (χ² =4,0; p=0,045) anwenden, nennen Männer signifikant häufiger NEM-Komplexprodukte (χ² =12,0; p=0,001), Sportnahrung (χ² =5,3; p=0,021), Sportgetränke (χ² =4,4; p=0,036) und spezielle Funktionskleidung (χ² =6,1; p=0,014).
Bei der Anwendung von klassisch-physiotherapeutischen Verfahren zeigt sich, dass Athleten mit vereinsbasierter medizinischer Betreuung signifikant häufiger die Verfahren trainingsbegleitende Massage (χ² =11,0; p=0,001), Elektrotherapie (χ² =10,3; p=0,001), klassisches Taping (χ² =10,0; p=0,002) und Kältetherapie (χ² =7,3; p=0,007) nutzen. Sportphysiotherapie (χ² =7,7; p=0,021) und Elektro-Therapie (χ² =7,2; p=0,027) werden signifikant häufiger auf höherem Leistungsniveau genutzt.Tabelle 4:Verordnung und Entscheidung der Anwendung (%)

Verordnung und Entscheidung der Anwendung
Die Frage, wer hinter der Verordnung bzw. Entscheidung einer Anwendung steht, zeigt, dass die Athleten sehr eigenständig handeln und Entscheidungen selbst treffen. Beobachtbar ist dies nicht nur bei CAM, sondern auch bei klassisch-physiotherapeutischen Verfahren. Allerdings spielen aus Sicht der Athleten bei der Entscheidung einer Anwendung auch betreuende Ärzte und Physiotherapeuten eine Rolle. Beispielsweise gibt fast ein Viertel der Athleten, die Energiearmbänder tragen, an, dass der betreuende Arzt dies empfohlen hätte (Tab. 4).

DISKUSSION

Die Ergebnisse unserer Pilotstudie aus Athletenperspektive sind aufgrund der eingeschränkten Repräsentativität zwar nur für vorliegende Stichprobe gültig, doch sie bestätigen Annahmen aus vorangegangenen Studien, wonach der Leistungsaspekt auch bei den Erwartungen der Athleten an alternativmedizinische Maßnahmen eine wichtige Rolle spielt. Es zeigt sich, dass Athleten, denen eine vereinsbasierte medizinische Versorgung zur Verfügung steht, den funktionalen Aspekten „Steigerung der Belastbarkeit“, „schnellere Regeneration“ und „Steigerung der Leistungsfähigkeit“ sogar eine signifikant wichtigere Bedeutung zumessen als Athleten, bei denen dies nicht der Fall ist. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse vorangegangener Studien könnte dies daran liegen, dass im Spitzensport auch bei behandelnden Ärzten und Physiotherapeuten eine Verschmelzung von medizinischer und sportlicher Handlungslogik stattfindet (1). So ist anzunehmen, dass diesen Berufsgruppen aufgrund ihrer engen Zusammenarbeit mit den Athleten die Relevanz einer optimalen körperlichen Verfassung für eine dauerhafte Erbringung von Höchstleistung besonders bewusst ist und deshalb medizinische Maßnahmen immer auch im Gespräch mit den Athleten als wichtige Voraussetzung der sportlichen Leistungserbringung kommuniziert werden.
Unsere Pilotstudie liefert einen weiteren Beleg dafür, dass CAM-Maßnahmen in der Praxis des Leistungssports eine bedeutende Rolle spielen und häufig genutzt werden. Mit Zunahme des Leistungsniveaus steigt die Fokussierung auf sportspezifische Verfahren. Die Athleten handeln dabei häufig eigenständig. Frauen bevorzugen tendenziell häufiger klassisch-alternativmedizinische Verfahren als Männer, die eher leistungsorientierte Maßnahmen ergreifen, was im Einklang mit allgemeinen Befunden zur CAMNutzung steht (4, 5). In welchem Maße die Sportart sowie das Zusammenspiel dieser Faktoren einen Einfluss auf die CAM-Nutzung hat, konnten wir aufgrund der inhomogenen Verteilung der Sportarten und somit teilweise zu geringer Zellenbesetzungen statistisch nicht absichern. Ferner liegt eine Dominanz von Spielsportarten vor, die beachtet werden muss, denn es muss davon ausgegangen werden, dass die sportartspezifischen Voraussetzungen und Beanspruchungen unterschiedliche medizinische Verhaltensweisen hervorrufen (12).
Unsere Untersuchung zeigt weiterhin, dass sich die Athleten trotz der hohen Nutzung von CAM nur in sehr geringem Maße darüber bewusst sind, dass es sich bei den angewandten Maßnahmen um Verfahren handelt, die der CAM zuzuordnen sind. Besonders auffallend ist dies bei Nahrungsergänzung, die von 88,2% der Athleten praktiziert wird, aber nur von einem einzigen Athleten mit CAM assoziiert wurde. Viele Verfahren, die laut Definition des NC-CAM der CAM zuzuordnen sind, werden von den Athleten als sehr gebräuchlich in ihrer Sportart eingestuft und stellen einen festen Bestandteil ihrer sportmedizinischen Behandlung dar. Diese Befunde stützen die These, dass es aufgrund der hohen Bedeutung leistungsbezogener Erwartungen sowohl für die Athleten als auch für das betreuende medizinische Personal von sekundärer Relevanz ist, ob die angewandten Verfahren der Schulmedizin oder CAM zuzurechnen sind.
Überraschend ist, dass eine vereinsbasierte medizinische Betreuung die Nutzungshäufigkeit von wissenschaftlich ungesicherten Verfahren nicht etwa verringert. Vielmehr ist die Nutzungshäufigkeit einer ganzen Reihe von CAM-Verfahren bei der Gruppe mit vereinsbasierter medizinischer Betreuung signifikant höher als bei den anderen Athleten. Dies zeigt sich insbesondere im Bereich der Nahrungsergänzung, kann aber auch hinsichtlich der Anwendung sportspezifischer Verfahren wie Kinesiotaping und spezieller Funktionskleidung aufgezeigt werden. Ferner geben die Athleten eine ärztliche Empfehlung von alternativen Maßnahmen, wie z.B. hinsichtlich homöopathischen Medikamenten oder dem Tragen von Energiearmbändern, an. In diesem Zusammenhang ist allerdings nicht auszuschließen, dass es hierbei Differenzen in Abhängigkeit von der wissenschaftlichen Qualifikation und dem Anstellungsverhältnis der Ärzte gibt. In der vorliegenden Studie konnten wir dies – da wir nur die Athletenperspektive erfasst haben – nicht prüfen.
Unsere Daten zeigen lediglich Zusammenhänge und keine Kausalrichtungen auf. Außerdem ist nicht auszuschliessen, dass kritische Diskussionen über CAM-Verfahren möglicherweise nicht allgemein bekannt sind. Im Hinblick auf Nahrungsergänzungsmittel, die per definitionem zur CAM zu rechnen sind, hat innerhalb der sportmedizinischen Wissenschaft in den letzten Jahren eine intensive Diskussion über Nutzen und Gefahren stattgefunden. Ob diese Diskussion allerdings alle betreuenden Ärzte der leistungssportlichen Praxis erreicht hat, müsste in künftigen Studien genauer betrachtet werden. Die Prüfung von Differenzen in Abhängigkeit von der wissenschaftlichen Qualifikation oder des Beschäftigungsverhältnisses des betreuenden Arztes oder Physiotherapeuten war in unserer Studie, wie gesagt, nicht möglich. Dennoch sollte unser Befund Anlass zu einer intensiveren Diskussion über CAMVerfahren in der medizinischen Praxis im Leistungssport geben. Eine solche Diskussion wäre nicht zuletzt angesichts der offiziellen Richtlinien des DOSB hinsichtlich der medizinischen Versorgung von Athleten von Interesse. Betrachtet man diese, dann wird ersichtlich, dass von Seiten des DOSB lediglich allgemeine Richtlinien für das medizinische Fachpersonal existieren. Evidenzbasierte Richtlinien für die Anwendung spezifischer Verfahren oder Informationen für die Athleten sind dagegen ebenso wie Hilfestellungen zur Prüfung der Güte von Wissensquellen Mangelware.

Unterstützung und finanzielle Zuwendungen
Die Studie wurde gefördert vom WissenschaftsCampus Tübingen, einem interdisziplinären Forschungsverbund des Leibniz-Instituts für Wissensmedien und der Eberhard Karls Universität Tübingen.

LITERATUR

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Korrespondenzadresse:
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Institut für Sportwissenschaft
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