Spitzensport und Gesundheit – eine Risikokultur im Fokus
Elite Sports and Health – a „Culture of Risk“
Ein gesunder Körper ist zwar die notwendige Basis für sportliche Höchstleistung. Aber Spitzensportler können keine Höchstleistungen erbringen, ohne ans körperliche Limit zu gehen und damit ihre körperliche Unversehrtheit ständig zu riskieren. Dieser Widerspruch wird in der sportwissenschaftlichen Forschung seit Jahren unter dem Stichwort „Risk-Pain-Injury Paradox“ (1) diskutiert. Athletinnen und Athleten handeln in einer „Kultur des Risikos“, die durch einen ganz spezifischen Umgang mit Gesundheit gekennzeichnet ist. Starke Schmerzen werden als notwendige Begleiterscheinung des Sporttreibens toleriert, das Aushalten von Schmerzen wird zuweilen sogar glorifiziert. Verletzungen werden oftmals bagatellisiert und das Risiko körperlicher Schädigung wird ausgeblendet (2). Sportliche Leistungsfähigkeit wird in dieser Kultur des Risikos zur obersten Zielgröße im Umgang mit Gesundheit (3).
Wie unsere GOAL-Studie, die bislang größte interdisziplinäre Studie zum Umgang mit Gesundheit und Ernährung im olympischen Nachwuchsleistungssport (4), zeigt, werden Spitzenathleten schon sehr früh in diese Kultur des Risikos hineinsozialisiert. Der Umgang mit Schmerzen und Krankheit im Spitzensport ist also Resultat eines längerfristigen Lernprozesses. Hier spielt das sportliche Umfeld eine wichtige Rolle (5). In Gesprächen mit Trainern im Rahmen unserer Studie fiel mehrfach die Aussage, dass das Weitermachen in Training und Wettkampf trotz starker Schmerzen ein guter Prädiktor sei, ob sich der Athlet später auch durchsetze. Roderick und Kollegen (6) kamen gar zum Schluss, dass sich Umfeldakteure im Spitzensport stillschweigend darüber einig seien, wie mit Schmerzen und Verletzungen umzugehen sei: zugunsten des sportlichen Erfolgs von einer medizinischen Behandlung im Zweifel eher abzusehen. Solcherart „erzogen“ verheimlichen Sportler nicht selten selbst massive Beschwerden und blenden gesundheitliche Risiken systematisch aus. Bei vielen Athleten steckt hinter diesem Verheimlichen auch die Angst, beim Trainer als zu „weich“ zu gelten.
Beim Umgang mit Gesundheit im Spitzensport spielt der Trainer – unabhängig von Alter und Geschlecht – also eine zentrale Rolle. Das Trainerhandeln ist vor allem dann ein Risikofaktor für die Gesundheit des Athleten, wenn er/sie unsicher im Umgang mit Beschwerden oder körperlichen Wachstumsprozessen ist, die Verantwortung für Verletzungspausen alleine auf den Athleten oder den Arzt überträgt, sich ausschließlich an kurzfristigen sportlichen Zielen orientiert, unter sehr hohem sportlichen Erwartungsdruck steht und sich wenig mit dem medizinischen Personal abstimmt (2, 3). Bei heranwachsenden Spitzenathleten ist die Rolle des Trainers besonders heikel. So verfügen Jugendliche nicht nur über wenig gesundheitsbezogenes Erfahrungswissen, sondern neigen grundsätzlich auch dazu, nur im Hier und Jetzt zu leben und langfristige gesundheitliche Folgen ihres Handelns auszublenden. Die besonders Risikobereiten unter den Athleten sind unseren Analysen zufolge denn auch dazu bereit, für einen Weltmeistertitel auf 30 Jahre ihres Lebens zu verzichten, anstatt mit mittelmäßigen Leistungen 90 Jahre alt zu werden. Diese Athletinnen und Athleten fokussieren sich meist in extremer Weise auf den Sport, sind hochgradig perfektionistisch und vernachlässigen gleichzeitig außersportliche Lebensbereiche (7). Trainer müssen vor diesem Hintergrund mit heranwachsenden Athleten sehr sensibel umgehen. Je autoritärer das sportliche Umfeld ist und je mehr Druck ausgeübt wird, desto mehr neigen die jungen Sportler dazu, körperliche und psychische Beschwerden so lange zu verdrängen oder zu verheimlichen, bis ein massiver Schaden eingetreten ist. In unserer Studie finden sich denn auch die höchsten physischen und psychischen Erschöpfungswerte bei denjenigen Athleten, die sich nicht nur selbst sehr stark unter Druck setzen, sondern auf die auch ein extrem großer Druck von außen ausgeübt wird.
Die Rolle des medizinischen Personals in der spitzensportlichen Kultur des Risikos ist eine äußerst schwierige. Gemessen an einem medizinischen Handlungsethos müsste es sich eigentlich vor allem am langfristigen körperlichen und psychischen Wohl des zu Behandelnden orientieren. Dies ist allerdings nicht immer mit der Logik des Spitzensports vereinbar. Internationale Studien zeigen, dass sich die Arzt-Athlet-Beziehung in erheblichem Maße von der Arzt-Patient-Beziehung außerhalb des Sports unterscheidet (8): Der Arzt ist mit deutlich weniger struktureller Macht ausgestattet als in der „alltäglichen“ medizinischen Praxis. Er steht unter Druck durch das sportliche Umfeld und handelt bei der Behandlung der Athleten oft isoliert von der eigenen Zunft. So werden zur Beurteilung von Heilungsprozessen häufig nicht medizinische, sondern sportliche Erfolgskriterien herangezogen. Schon bei der Behandlungsplanung müssen zeitliche Zwänge des Spitzensports berücksichtigt werden. Nicht selten gehen der endgültigen Festlegung einer Trainings- und Wettkampfpause regelrechte Verhandlungen zwischen Arzt, Athlet und Trainer voraus. Diese „Deprofessionalisierung“ des Sportmediziners führt im Extremfall dazu, dass die betreffenden Ärzte nicht mehr als Heiler, sondern vielmehr als Reparateure wahrgenommen werden, deren Hauptfunktion es ist, den Athleten lediglich fit für den nächsten wichtigen Wettkampf zu machen. Ärzte können dabei, wie die kritische Literatur zur medizinischen Betreuung im Spitzensport zeigt, durchaus zum Risikofaktor für die langfristige Gesundheit der Athleten werden, wenn sie z.B. massiv Schmerzmittel oder ungesicherte Behandlungsmethoden einsetzen, um den Einsatz im Wettkampf zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere, wenn die betreuenden Ärzte wenig erfahren sind, ein relativ geringes „Standing“ im Team haben und sich übermäßig mit spitzensportlichen Werten identifizieren.
Ärzte müssen sich im Spitzensport aber auch häufig mit dem Problem auseinandersetzen, dass sie keinen Zugriff auf gesundheitsrelevante Praktiken der Athleten haben. In den Befragungen unserer GOAL-Studie gaben z.B. fast alle jungen Spitzenathleten an, Nahrungsergänzungsmittel zu konsumieren (9). Nahrungsergänzungsmittel werden aber (ähnlich wie Schmerzmittel) häufig nicht über den Arzt bezogen, sondern auf eigene Faust beschafft oder – im Jugendbereich – von den Eltern besorgt. Darüber hinaus scheint es im Spitzensport eine große Anzahl an Paramedizinern zu geben, die abseits der offiziellen medizinischen Therapie unterschiedlichste alternativmedizinische Angebote für alle Arten von Beschwerden machen. Und das Ärzte-Hopping, d.h. das Aufsuchen mehrerer unterschiedlicher Ärzte aufgrund der gleichen medizinischen Problematik, ist keine Seltenheit und geschieht meist ohne Wissen des offiziellen Team-Arztes.
Fast man die vorliegenden Befunde zusammen, dann lässt sich beim Gesundheitsmanagement im Spitzensport definitiv ein Optimierungsbedarf konstatieren. Trainer und auch Ärzte müssen ein offenes Klima im Umgang mit gesundheitlichen Beschwerden schaffen und vertrauensbildende Maßnahmen ergreifen. Nur so werden Athleten bereit sein, früh über Schmerzen und psychische Beschwerden zu sprechen und den Anweisungen des Arztes zu folgen. Im Nachwuchsbereich sollten auch die Eltern geschult werden, damit sie sensibel für den körperlichen und psychischen Zustand ihrer Kinder sind. Junge Teamärzte wiederum benötigen Supervision durch erfahrene Sportmediziner, nicht nur im Blick auf die besonderen Herausforderungen der Spitzensportmedizin, sondern auch dahingehend, wie man medizinisch notwendige Behandlungspläne gegen übermotivierte Athleten und dominante Trainer durchsetzen kann. Nicht zuletzt müssen Sportorganisationen personelle und finanzielle Unterstützung bei der Entwicklung von gesundheitsbezogenen Netzwerkstrukturen, sportmedizinischen Dokumentationssystemen, angebotsbezogenen Qualitätssicherungsmaßnahmen sowie Informationsmedien und Fortbildungsangeboten leisten. Denn erst ein umfassendes Gesundheitsmanagement kann garantieren, dass die Risiken des „Spitzensports“ auch gesamtgesellschaftlich gesehen ethisch vertretbar bleiben.
1Die GOAL-Studie wurde von 2009-2014 vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft gefördert. Weitere Mitglieder der GOAL-Forschungsgruppe sind: Prof. Dr. Sven Schneider und Dr. Katharina Diehl (MIPH, Universität Heidelberg), Prof. Dr. Stephan Zipfel, Dr. Katrin Giel und Dr. Anne Werner (Abteilung Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Universitätsklinik Tübingen) und Dr. Jochen Mayer, Alexia Schnell und Astrid Schubring (Institut für Sportwissenschaft, Universität Tübingen).
LITERATUR
- Coaches' Views of Risk, Pain, and Injury in Sport, With Special Reference to Gender Differences. Sociology of Sport Journal. 1994; 11, 79-87.
- Verletzungsmanagement im Spitzensport: eine systemtheoretisch-konstruktivistische Analyse mit Fallstudien aus den Sportarten Leichtathletik und Handball. Hamburg: Feldhaus Edition Czwalina, 2010.
- Gesundheit im Spitzensport. Eine sozialwissenschaftliche Analyse. Schorndorf: Hofmann, 2010.
- The German Young Olympic Athletes' Lifestyle and Health Management Study (GOAL Study): design of a mixed-method study. BMC Public Health. 2011; 410 (11): 410.
- Growth Problems in Youth Elite Sports: Social Conditions, Athletes’ Experiences, and Sustainability Consequences. Reflective Practice. International and Multidisciplinary Perspectives. 2014.
- Playing hurt": Managing Injuries in English Professional Football. International Review for the Sociology of Sport. 2000; 35(2), 165-180.
- Giving Everything For Athletic Success! - Sports-Specific Risk Acceptance of Elite Adolescent Athletes. Psychology of Sport and Exercise. 2013;15 (2): 165–172.
- Sports medicine: a very peculiar practice? Doctors and physiotherapists in elite English rugby union. In S. Loland, B. Skirstad & I. Waddington (Eds.), Pain and Injury in Sport. Social and ethical analysis (pp. 165-181). London / New York: Routledge, (2006).
- Elite adolescent athletes and use of dietary supplements: characteristics, opinions, and sources of supply and information. International Journal of Sport Nutrition and Exercise Metabolism. 2006;22, 165-174.