Schwerverletzte durch Unfälle im Reitsport
Severe Injuries in Horseback Riding
ZUSAMMENFASSUNG
Problemstellung: Reiten ist ein in Deutschland weit verbreiteter und beliebter Sport. Die Risiken, mögliche Verletzungen und Verletzungsfolgen werden weithin unterschätzt. Präventive Maßnahmen benötigen nach Möglichkeit eine definierte Zielgruppe; dies erhöht deren Akzeptanz, Umsetzung und somit Wirksamkeit. Die vorliegende Studie charakterisiert hierfür das Kollektiv der Schwerverletzten (NISS > 15) durch Reitunfälle und stellt es den leichtverletzten Fällen gegenüber.Methoden: Die vorliegende retrospektive Studie umfasste 225 leichtverletzte und 17 schwerverletzte Patienten über einen Zeitraum von 6,5 Jahren. Es wurden alle stationären Fälle anhand von Schlüsselbegriffen identifiziert und ausgewertet.Ergebnisse: Frauen waren in beiden Gruppen vergleichbar häufig betroffen (88% vs. 76,5%). Das mittlere Alter war bei schweren Verletzungen deutlich höher als bei leichten Verletzungen (35,12 ± 4,64 vs. 26,86 ± 0,98, *p<0,05). Der Sturz vom Pferd war in beiden Gruppen die häufigste Unfallursache (77,7% Leichtverletzte vs. 82,3% Schwerverletzte). Verletzungen von Thorax und Brustwirbelsäule fanden sich 12,65 mal häufiger bei schweren Verletzungen, Verletzungen der Extremitäten fanden sich hingegen 2,72 mal häufiger bei Leichtverletzten. Diskussion: Im Gesamtkollektiv der Leichtverletzten sind besonders Nachwuchsreiter gefährdet, so dass diese besondere Aufmerksamkeit erhalten sollten. Zur Prävention schwerer Verletzungen lässt sich hingegen feststellen, dass alle Altersschichten gleichermaßen von schweren Unfällen betroffen sind; die Häufung thorakaler Verletzungen betont die Notwendigkeit entsprechender Protektoren.
Schlüsselwörter: Pferde, Reitsport, Schwerverletzte, NISS, Prävention
SUMMARY
Introduction: Horseback-riding is both a popular recreational activity and sport. The risks of injury thereby seem to be underestimated. A well-defined population for effective preventive measures is required. Therefor, our study characterizes patients injured in horse-related accidents and compares major injury cases with NISS > 15 with minor injury cases. Methods: Our retrospective study comprises 225 minor and 17 major injuries over a time period of 6.5 years. All inpatient cases were identified using specific key words and included.Results: Percentage of injured females was comparable in both groups (88% vs. 76,5%). Mean age was higher in major injuries than minor injuries (35,12 ± 4,64 vs. 26,86 ± 0,98, *p<0,05). The dominant cause of injury was a fall from the horseback in both groups (77,7% minor vs. 82,3% major). Injuries of thorax and thoracic spine were 12.65 times more likely in the major-group while injuries of the extremities were 2.72 times more likely in the minor-group. Discussion: In the group of minor injured patients especially children seem to be at risk. They should be adressed in mandatory preventive measures. Major injuries are distributed equally in the observed population, predominantly with thoracic and abdominal traumata. A wider acceptance of safety vests could reduce the burden of major injuries in horseback-riding.
Key Words: Horse, horseback-riding, NISS, prevention, severely injured
EINLEITUNG
Reiten erfreut sich in Deutschland großer Beliebtheit, sowohl als Freizeitaktivität als auch als Breiten- und Leistungssport (7, 14). Dabei werden die begleitenden Risiken und Gefahren häufig unterschätzt; die Verletzungen, welche durch Pferdeunfälle bedingt sind, können gravierend sein (8, 10, 11). Verschiedene Studien besagen, Reitsport sei gefährlicher als American Football, Alpinski, Fußball oder gar Motorradfahren (1, 3, 4, 15). Mayberry führte 2007 die Schätzung an, dass jeder fünfte Reiter in seiner Karriere ernsthaft zu Schaden kommt (12).
PROBLEM UND ZIELSTELLUNG
Um sinnvolle präventive Maßnahmen ergreifen zu können und Risikofaktoren abschätzen zu können, wurde in der hier durchgeführten Studie das Kollektiv der Schwerverletzten charakterisiert und mit der Gesamtheit stationärer Fälle aufgrund von Verletzungen durch Reitsport verglichen. Das so identifizierte Patientenkollektiv würde in besonders hohem Maße von gesteigerten Sicherheitsvorkehrungen profitieren.
MATERIAL UND METHODEN
Um zu klären, mit welcher Häufigkeit es zu Schwerstverletzungen im Reitsport kommt, wurde die nachfolgende retrospektive Studie erstellt.
Dabei wurden aus allen stationären Fällen von Verletzungen durch Reitunfälle diejenigen identifiziert, welche nach allgemein anerkannten Maßstäben (NISS) als Schwerverletzte eingestuft werden (2, 13).
Hierfür wurden alle stationären Patienten des Universitätsklinikums Ulm, Klinik für Unfall-, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie, zwischen Mai 2005 und Oktober 2012 auf ausgewählte Schlüsselbegriffe (Pferd, Reiten, Reitunfall, Reitsport, Ausritt) hin durchsucht. Die so identifizierten Fälle wurden retrospektiv ausgewertet. Einerseits wurden dabei Patientendaten (Geschlecht, Alter zum Unfallzeitpunkt) als auch Unfalldaten erhoben (Zeitpunkt des Unfalls, Art des Unfalls). Zugeordnet wurden außerdem die Diagnose(n), Art der Therapie und Dauer des stationären Aufenthaltes.
Aufgrund der Einschränkungen des ISS-Wertes bei multiplen Verletzungen des selben Organsystems (5, 6) wurde der NISS-Wert genutzt, welcher unabhängig vom Organsystem die drei höchsten Punktwerte berücksichtigt. Unter allen identifizierten Fällen wurden diejenigen als Schwerverletzte klassifiziert, welche einen NISSWert größer 15 erreichten (13).
Statistische Auswertungen wurden mit GraphPad Prism 5.0a (GraphPad Software, San Diego, California U.S.A.) durchgeführt. Soweit nicht anders angegeben, sind Mittelwerte mit Standardabweichung angegeben. Im Student’s t-Test wie auch Chi-Quadrat-Test wurden p-Werte < 0,05 als statistisch signifikant angenommen.
ERGEBNISSE
Patientendaten
Insgesamt wurden 242 Patienten mit stationärer Behandlung aufgrund einer durch Reitsport verursachten Verletzung identifiziert. Hiervon waren 225 leichtverletzt mit einem NISS<16. 17 Patienten wurden mit einem NISS ≥ 16 als Schwerverletzte eingestuft, entsprechend 7,5% (Tab. 1).
Leichtverletzte Patienten waren im Durchschnitt 26,8±14,7 Jahre alt, die jüngste Patientin war zum Unfallzeitpunkt 2 Jahre alt, der älteste 78 Jahre (Spannweite 76 Jahre; Abb. 1). Während schwerverletzte Patienten mit 35,1±19,1 Jahren im Durchschnitt älter waren (*p<0,05; Abb. 1), war die Spannweite mit 55 Jahren weniger groß (min. 7 Jahre, max. 62 Jahre). Insgesamt wurden 198 Frauen, entsprechend 88%, und 27 Männer (12%) aufgenommen. Im Kollektiv der Schwerverletzten fanden sich 4 Männer (23,5%) und 13 Frauen (76,5%).
Unfalldaten
Die häufigste Unfallursache im Gesamtkollektiv war der Sturz vom Pferd (77,7%), gefolgt von Verletzungen durch Zügel und Gurte (10,2%), Pferdetritten (4,8%) und Pferdebissen (1,7%). Zu schweren Verletzungen führten hauptsächlich Sturz (14/17, 82,3%) und Huftritt (2/17, 11,7%). Insgesamt war in 111 leichtverletzten Fällen, entsprechend 49,3%, eine operative Therapie notwendig. Bei schwerverletzten Patienten wurde in 35,3% eine operative Versorgung notwendig. Die stationäre Aufenthaltsdauer betrug bei konservativ versorgten Patienten 4,2±4,2 Tage im Gegensatz zu 13,0±7,5 Tagen bei operativer Versorgung (p<0,0001, Tab. 1).
Verletzungsmuster
Die Verletzungen wurden entsprechend der sechs Kategorien des NISS eingeordnet (vgl. Tab. 1). Dabei fanden sich bei Leichtverletzten 58 Kopf- und Halsverletzungen, entsprechend 0,3 Verletzungen/Patient. Die insgesamt 11 Verletzungen der Schwerverletztengruppe, entsprechend 0,7 Verletzungen/Patient, bedeuten eine Steigerung um den Faktor 2,5. Eine Steigerung um Faktor 10 zeigt sich bei den Gesichtsverletzungen: 9 Verletzungen (0,04/Patient) stehen 7 Verletzungen (0,4/Patient) in der Schwerverletztengruppe gegenüber. Den größten Unterschied bringen Thorax und Verletzungen der BWS mit sich (Faktor 12,5). 45 Verletzungen bzw. 0,2/Patient in der Leichtverletztengruppe stehen 43 Verletzungen, entsprechend 2,5/Patient, im Schwerverletztenkollektiv entgegen. Becken-, Abdomen- und LWS-Verletzungen finden sich bei jedem fünften leichtverletzten Patienten (48 Verletzungen; 0,2/Patient). 1,5 Verletzungen/Patient bzw. 25 Verletzungen insgesamt verteilen sich auf die 17 Patienten mit NISS>15. Extremitätenverletzungen bilden eine Ausnahme, da diese bei Leichtverletzten häufiger zu finden waren (177 Verletzungen; 0,8/Patient vs. 5 Verletzungen; 0,3/Patient). Äußere Verletzungen sind bei schweren Verletzungen mit insgesamt 16 Fällen, entsprechend 0,9/Patient beinahe doppelt so oft wie bei Leichtverletzten (111 Verletzungen; 0,5/Patient).
Der kalkulierte NISS erreichte bei den Schwerverletzten im Mittel 22,8±8,1 (Median 22,0), der maximale NISS-Wert betrug 48 (Tab. 1).
KLINISCHE BEISPIELE
Den in der vorliegenden Studie höchsten NISS-Wert von 48 erreichte ein 56-jähriger Mann. Er fiel von seinem scheuenden Pferd, welches daraufhin auf ihn stürzte. Es kam zu einem tamponierenden Perikarderguss, welcher notfallmäßig mittels Perikardiotomie und Perikarddrainage entlastet wurde. Eine begleitende Einblutung in die Wand der Aorta ascendens wurde konservativ gehalten. Zusätzlich zog er sich bei dem Unfall eine instabile Beckenringverletzung Typ C zu, welche zu einem massiven Hämatom mit mechanischem Harnstau führte. Die Fraktur wurde mittels 4,5 mm LCP Platte über der Symphyse und navigierter 7,3 mm ISG-Schraube versorgt und das Hämatom ausgeräumt.
Eine 33-jährige Patientin erlitt einen Tritt ihres Pferdes gegen den Thorax. Klinisch führend war dabei ein ausgedehnter HämatoPneumothorax links mit relevantem Blutverlust, welcher mit einer Thoraxdrainage entlastet wurde. Begleitend waren die 3.-7. Rippe sowie das Brustbein gebrochen. Ein schmaler Perikarderguss mit Troponin-Anstieg konnte konservativ behandelt werden, ebenso wie bilaterale ausgedehnte Lungenkontusionen.
Beim Voltigieren stürzte ein Pferd auf eine 16-Jährige, welche dabei neben Lungenkontusionen beidseits ein komplexes Schädel-Hirn-Trauma erlitt. Eine Abscherverletzung des Mittelhirns im Bereich des Pedunculus cerebellaris superior links führte u.a. zu Doppelbildern aufgrund der Beteiligung des N. trochlearis. Betroffen waren außerdem Hippocampus und Nucleus caudatus. Zusätzlich zeigten sich Blutspiegel in den Seitenventrikeln. Zur konservativen Therapie einer Hemiparese rechts mit Gangataxie und Wahrnehmungsstörung des Körpers wurde die Patientin zeitnah in die neurologische Rehabilitation verlegt.
DISKUSSION
Voraussetzung für jedwede Art präventiver Maßnahme ist die Identifikation oder mindest möglichst enge Eingrenzung des Risikokollektivs; dies führt zu hoher Akzeptanz und Umsetzung vorgeschlagener Präventionsmaßnahmen (16). Die vorliegende Arbeit zielte darauf ab, diese notwendige Eingrenzung zu liefern.
Ein Altersgipfel für schwere Verletzungen lässt sich in den erfassten Daten jedoch nicht erkennen; das mittlere Alter der Schwerverletzten liegt allerdings deutlich über dem Durchschnittsalter aller verletzten Reiter. Dies wird sicherlich multifaktoriell begründet sein; einerseits nimmt mit dem Alter u.a. die Reaktionsgeschwindigkeit, ligamentäre Flexibilität und Knochendichte ab, so dass ältere Patienten bei vergleichbarem Trauma schwerer Verletzungen davontragen. Andererseits zeigen jüngere Reiter ein besonderes Risikoprofil, z.B. aufgrund fehlender Erfahrung bei Reitanfängern oder höheren Ansprüchen bei Wettkampf- und Turnierreitern. In Zusammenhang mit einem hohen Gesamtanteil an jungen Reitsportlern in Deutschland erklärt sich so, ohne eine Aussage über die Inzidenz treffen zu können, die hohe Zahl junger Patienten gesamt, was sich mutmaßlich im niedrigeren mittleren Alter der Leichtverletzten spiegelt. Die hier gezeigten Daten zeigen allerdings, dass Reiter aller Altersklassen in vergleichbarem Maße schwere Verletzungen erleiden. Im Hinblick auf die absolute Zahl von Verletzungen ist daher, wie bereits andernorts beschrieben, besonders der Nachwuchs zu addressieren (9). Die Folgen schwerer Unfälle mit häufig notwendiger operativer Versorgung und stationärem Aufenthalt bergen eine hohe persönliche Belastung des Patienten. Ob diese durch die Unfallfolgen ihre Gewohnheiten geändert oder gar das Reiten aufgegeben haben bleibt zu untersuchen. Um Anzahl und Folgen schwerer Verletzungen durch Reitunfälle zu reduzieren bedarf es allerdings präventiver Maßnahmen in allen Altersklassen gleichermaßen. Die Häufung thorakaler Verletzungen deutet auf die Notwendigkeit von umschließenden Protektorenwesten hin, wie sie bereits für andere Sportarten wie z.B. Downhill-Mountainbiking üblich und in großer Vielfalt auf dem Markt verfügbar sind.
Angaben zu finanziellen Interessen und Beziehungen, wie Patente, Honorare oder Unterstützung durch Firmen: keine.
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Dr. Andreas Schicho
Universitätsklinikum Ulm
Klinik für Unfall-, Hand-, Plastische
und Wiederherstellungschirurgie
Albert-Einstein-Allee 23
89081 Ulm
E-Mail: andreas.schicho@uniklinik-ulm.de