Olympische Sportmedizin
EDITORIAL

Wir brauchen die Olympischen Spiele!

We need Olympic Games!

Prof. Dr. Jürgen M. Steinacker Sektion Sport- und Rehamedizin Universitätsklinikum UlmMit den Olympischen Winterspielen 2014 hat die öffentliche
Diskussion der letzten Monate immer weitere Höhepunkte erreicht. Die Aktionen des Internationalen Olympischen Komitees werden vielstimmig kommentiert und jede Absage eines Politikers ist eine Nachricht wert. Ein vorläufiger Tiefpunkt war der Volksentscheid, der in den befragten vier Gemeinden nicht die notwendige Mehrheit für die Olympischen Winterspiele in GarmischPatenkirchen und Umgebung ergeben hat, wobei die niedrige Wahlbeteiligung und die schlechte Vorbereitung nicht alleine zur Erklärung ausreichen.
Ganz im Gegensatz dazu die Olympischen Spiele und Paralympics 2012 in London, die übergroße Begeisterung der Zuschauer in den Stadien und Rennstrecken, und die Millionen Fernsehzuschauer, die gebannt die Spiele und die tollen Leistungen von Sportlern verfolgten, das Interesse an Sportarten, die sonst wenig beachtet werden. Auch wenn man es in Deutschland kaum glauben kann, der olympische Geist war in London tatsächlich fühlbar, alle hatten das Gefühl, an einem einzigartigen Ereignis teilzunehmen.
Können wir uns als Deutsche nicht mehr für Olympische Spiele begeistern? Man kann es sich einfach machen und auf 60 % der Deutschen verweisen, die in Umfragen eine Sympathie für die Olympischen Spiele bekundet haben sollen, aber das ist wiederum zu kurz gedacht.
Die Kritikpunkte der Olympiakritiker sind ernst zu nehmen und zu untersuchen, wo sie sind berechtigt, was sind Ressentiments, was sind die Fakten, wo zeigen sich Lösungsansätze?
Wenn die Größe der Spiele beklagt wird, so ist es im Interesse einer globalisierten Welt, dass möglichst viele Länder und Regionen mit ihren Sportlern auf den Olympischen Spielen vertreten sind. Wegen dieser Universalität ist eigentlich nicht denkbar, dass wieder weniger Sportler und Betreuer an den Spielen teilnehmen, man würde Teile der Welt oder gute Sportler von der Teilnahme ausschließen.
Die Idee aber, viele Sportarten zum selben Zeitpunkt ihre internationalen Wettkämpfe zu den Olympischen Spielen zusammenzufassen, ist seit der Neuentdeckung durch Pierre Baron de Coubertin weiterhin aktuell geblieben. Die Sportler wollen auf die Olympische Spiele, die Sportler wollen diese Großveranstaltung, die Sportler sind glücklich und zufrieden, die Olympiamedaillen haben einen besonderen Wert. Dass, wo viele Sportler sind, noch mehr Betreuer und noch mehr Presse kommen, steigern den Umfang der Veranstaltung und deshalb sind die Umfanggrenzen erreicht.
Wenn die Vergabepraxis der Olympischen Spiele kritisiert wird, dann kann man sie eigentlich nur kritisieren, wenn man sich selbst an dem Vergabeverfahren beteiligt. Nur wenn Alternativen aufgebaut und angeboten werden, kann sich das IOC auch für solche Alternativen entscheiden. Natürlich werden sich Demokratien mit ihrer komplizierteren Willensbildung nicht so einfach wie autokratische oder diktatorische Regimes bewerben können, denn diesen fällt es sehr viel leichter, finanzielle Garantien und Zusicherungen abzugeben, der Wertgehalt solcher Zusagen zeigt sich oft später. Eine stabile, verlässliche demokratische Staatsstruktur sind wichtige Entscheidungskriterien, wenn aber der Wille nicht vorhanden ist, Spiele in ein Land zu holen, kann man auch nicht das IOC überzeugen.
Zahlreiche Politiker würden es offenkundig sehr viel lieber sehen, wenn sie die Olympischen Spiele kontrollieren könnten. Wären dann die Spiele wären noch viel mehr in die Beliebigkeit und die Verhandlungsmasse von Koalitionen gestellt? Wäre nicht die Auswahl von Olympiastädten genauso unvollkommen und schwierig wie bisher, wenn nicht sogar deutlich schlechter?
Derzeit finanziert das IOC aus den Marketingrechten den gesamten Betrieb der Spiele und vom Restertrag werden 90 % den olympischen Sportverbänden zugeleitet, die als Amateurverbände weitgehend darauf angewiesen sind. Was wären die Alternativen? Eine Privatisierung, eine Verpachtung der Spiele an Wettanbieter?
Wie sollte im Gegensatz eine Reamateurisierung aussehen? Keine Presse, keine Sponsoren, die Sportler zahlen selbst und die armen Nationen bleiben zuhause? Aber es ist ganz klar, wer wie das IOC viel Geld und viel Vertrauen hat, muss in diesem Punkt transparent sein.
Das Vergabesystem dem IOC wegzunehmen, ist fast die implizierte Forderung vieler Kritiker. Das IOC verwendet sehr viel Mühe und eine großen Aufwand für den Auswahlprozess. Die Autonomie des IOC sichert eine große Unabhängigkeit bei der Auswahlentscheidung; allerdings werden offenkundig trotzdem kritische Fakten nicht genügend deutlich gesehen oder analysiert. So wurde sicher zu oft nach dem Bauchgefühl entschieden, und manches IOC-Mitglied hat sich zu wichtig gemacht und war offen für Einflussnahme, dies muss bekämpft werden.
Oft kommt es einem so vor, als ob wir Deutschen besser wissen, was für die olympische Bewegung gut ist. Leider haben wir es aber nicht geschafft, den deutschen Sport international so weit zu verankern, wie es unserer Sportgeschichte und unserer Sportkultur geschuldet wäre. Zu wenige Repräsentanten, wie jetzt „unser“ IOC-Präsident Dr. Thomas Bach, haben großen Einfluss im olympischen Sport.
Man hat in internationalen Organisationen nur eine Stimme pro Land, ganz unbeschadet von den olympischen Verdiensten, dem moralischen Impetus und eventueller Logik. Mit dieser einen Stimme kann man niemanden majorisieren, man kann nur geduldig überzeugen. Entscheidungen sind bei einer persönlichen und geheimen Stimmabgabe nicht immer logisch und schon gar nicht transparent.
Zur Mehrheitsgewinnung gehört, dass über Jahrzehnte eine Strategie verfolgt wird, dass Kandidaten in Position gebracht werden. Diese können dann international Respekt und Einflussnahme sicherstellen. Einer solch langfristigen Strategie fehlen oft deutsche Bewerber, die Mühen der Etappe auf sich nehmen wollen. Deutsche Kandidaten für das IOC und internationale Fachverbände haben oft vorher aufgegeben, bevor sie Einfluss aufbauen konnten.
Es ist auch nicht so, dass der moralische Zeigefinger uns Deutsche beliebter oder durchsetzungsfähiger im internationalen Sport macht. Aktuelle Armbanduhrenimporte lenken einen kleinen Blick darauf, dass auch deutsche Sportfunktionäre Menschen sind und für Geschenke empfänglich. Somit können wir nicht reklamieren, die Saubermänner der Welt zu sein. Wir können nur beharrlich daraufhin arbeiten, Missstände zu beeinflussen und zu verhindern und das geht nur über die Organisation von Mitgliedschaften in internationalen Gremien. Dies kostet viel Zeit, Aufwand und privates Engagement.
Die Anti-Doping-Diskussion ist für uns Sportärzte überaus wichtig, denn wir wollen einen gesunden und natürlichen Leistungssport. Wir wollen sportliche Leistungen, an denen wir uns begeistern können, wir wollen aber, dass die Grundgedanken von Gesundheit, Fairness und Chancengleichheit eingehalten werden. Deshalb ist uns der Anti-Doping-Kampf ein wichtiges Anliegen. In der olympischen Bewegung gibt es starke Unterstützer und natürliche Verbündete, aber auch Gegenspieler, denn manche Staaten haben offenkundig kein Interesse daran, durch konsistente Anti-Doping-Bemühungen Chancengleichheit und Fairness im Sport herzustellen.
Olympische Spiele waren und werden nicht geeignet sein, politische Ziele durchzusetzen. Aber der ethisch-moralische Anspruch, mit dem diese Spiele stattfinden, ist grundlegend wichtig. Die Menschenrechtssituation in bestimmten Ländern, wie auch jetzt in Russland, kommt im Brennglas der Olympischen Spiele zum Vorschein, im positiven und negativen Sinne und die Veränderungen, die durch diese Öffentlichkeit bewirkt werden, sind viel größer und tiefgründiger als gemeinhin angenommen. Insofern brauchen wir Olympische Spiele auch für die Menschenrechte.
Die Grundidee der Olympischen Spiele der Begegnung von Jugend in fairem und gleichem Wettkampf ist sicher immer nur ein Ideal gewesen und Ideale kann man nie ganz erfüllen.
Trotzdem hat die olympische Bewegung in den letzten 120 Jahren eine erstaunliche Vitalität in sich bewahrt. Reformen und Erneuerungen tun gut und dafür wird sich das Olympische Komitee auch rechtfertigen müssen, diese großartige Idee weiter zu entwickeln und voranzutreiben. Integrität der Entscheidungen, gelebte Verantwortung, aber auch gleichzeitig Beteiligung und Offenheit zu realisieren sind dabei notwendig.
Wir werden in den nächsten Heften der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin in unregelmäßigem Abstand Repräsentanten des Sports zu ihrer persönlichen Sicht über die olympische Bewegung befragen, um bis Rio 2016 einige Eckpunkte und Reformideen weiter zu beleuchten. Machen Sie mit – die olympische Idee braucht alle!