Adipositas & körperliche Aktivität
EDITORIAL

Prävention und Autonomie – Gedanken zum neuen Präventionsgesetz

Prevention and Respect – Thoughts about the New Prevention Act

In einer modernen, alternden Gesellschaft mit zunehmenden Erkrankungen, die mit körperlicher Inaktivität, Stress und Überernährung einhergehen, werden Gesundheit und Prävention ganz besonders wichtig. Die WHO hat 2013 eine Strategie zur Prävention nicht übertragbarer Lebensstil-assoziierter Krankheiten (Noncommunicable diseases – NCD´s) entworfen und die Europäische Kommission hat 2014 die Umsetzung von gesundheitsorientierter Bewegung und Sport (Health-Enhancing Physical Activity, HEPA) als Gemeinschaftsziel beschlossen.

Die Lebenserwartung steigt derzeit um etwa ein Vierteljahr pro zurückgelegtem Lebensjahr. Dies birgt Chancen für alte und ältere Menschen, aber auch entsprechende Risiken für chronische Krankheiten und Pflegebedürftigkeit. Die klassische Medizin hat mit dem Risikofaktorenmodell und der molekularen Medizin zur Aufklärung der Ursachen von Krankheiten Wesentliches geleistet. Allerdings hat die klassische Prozeduren- und risikofaktorenbezogene Intervention hohe, progressiv ansteigende Kosten und stark begrenzte nachhaltige Wirkungen im Hinblick auf die Gesundheit, da sie zu spät im Leben ansetzt. Die Fokussierung auf die Akutmedizin führt zu einem gigantischen Ressourcenverbrauch im Gesundheitswesen ohne nachhaltigen Nutzen. Der steigende Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund führt zu einer gesellschaftlichen Segregation von Gesundheit und stellt auch zusätzliche Herausforderungen an die Kommunikation und Zusammenarbeit im Gesundheitswesen.
Neben der klassischen medizinischen und molekularen Forschung nach Krankheitsmechanismen stellen sich Herausforderungen für die Gesundheitssysteme durch den Massencharakter der Gesundheitsprobleme, die erweiterte Begriffe von Gesundheit und Gesundheitsförderung notwendig machen, wie die Förderung eines gesunden Lebensstils, die Ressourcenförderung und die öffentliche und betriebliche Gesundheitsvorsorge unter Einbeziehung von ökosozialen und gesundheitsökonomischen Bedingungen.
Am 18. Juni 2015 wurde von den Koalitionsfraktionen das neue Präventionsgesetz beschlossen.
Im Gesetz (PrävG) steht zu der an „gemeinsamen Zielen orientierten nationalen Präventionsstrategie“ die „Verbesserung der Kooperation der Sozialversicherungsträger und weiterer Akteure sowie der Koordination der Leistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention in betrieblichen und nichtbetrieblichen Lebenswelten“ und die „Stärkung von Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten wie Kindertageseinrichtungen, Schulen, Betrieben und stationären Pflegeeinrichtungen“. Weiterhin erwähnt es für die betriebliche Gesundheitsförderung die „Sicherstellung der Qualität und Förderung der Wirksamkeit von Leistungen zur Prävention und Gesundheitsförderung“, die „präventionsorientierte Fortentwicklung der Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen“ und von Impfungen.
Im Fünften Buch Sozialgesetzbuch wird der §20 „Primäre Prävention und Gesundheitsförderung“ neu gefasst und eine „Nationale Präventionskonferenz“ als Arbeitsgemeinschaft der gesetzlichen Spitzenorganisationen der Leistungsträger unter Beteiligung des Bundes geschaffen. Ärzte kommen da zuerst nicht vor, eventuell finden sie sich im jährlichen „Präventionsforum“, in dem sich Vertreter der für die Gesundheitsförderung und Prävention maßgeblichen Organisationen und Verbände finden.Ziele der Prävention sollen laut PrävG sein:
1. Diabetes mellitus Typ 2: Erkrankungsrisiko senken, Erkrankte früh erkennen und behandeln,'
2. Brustkrebs: Mortalität vermindern, Lebensqualität erhöhen,
3. Tabakkonsum reduzieren,
4. gesund aufwachsen: Lebenskompetenz, Bewegung, Ernährung,
5. gesundheitliche Kompetenz erhöhen, Souveränität der Patientinnen und Patienten stärken,
6. depressive Erkrankungen: verhindern, früh erkennen, nachhaltig behandeln und
7. gesund älter werden.

Ist nun alles gut? Auf jeden Fall ist es perfekt geregelt und die Leistungsträger sind verantwortlich. „Bewegung“ findet sich nur an der zitierten Stelle. Im Gesetz bleibt der Begriff Prävention unscharf, auch wenn viele der Wendungen durchaus modern und nachvollziehbar sind.
Prävention kann nicht von oben herab – „top down“ – durchgesetzt werden, so wie es die klassische Medizin sieht. Prävention heißt nicht, den unwissenden Bürger anzuleiten und zu führen, dann wird alles gut. Es geht darum, das langfristige Gesundheitsverhalten von Menschen zu ändern. Gesundheit beruht auf ureigenen Entscheidungen und persönlichen Empfindungen, die Menschen für sich treffen.
So gibt es tausende Initiativen zur Prävention der Adipositas, jedoch leider wenige oder gar negative Effekte, wenn man die Entwicklung des Körpergewichts in Deutschland anschaut. Initiativen, Studien und das neue Präventionsgesetz sind überwiegend nach dem „top down“-Prinzip konstruiert: Wohlmeinende und gut wissende Menschen (Experten) erziehen und vermitteln Wissen, aber letztendlich weicht der Betroffene dem aus. Nach dem Konsumentenprinzip bestaunt er zwar das Angebot, betrachtet es für sich jedoch nicht als relevant und integriert es nicht dauerhaft in seinen Lebensstil. Das Modell „Chefkoch“ ist toll für Fernsehsendungen, aber weite Bevölkerungsschichten ziehen die Fertigpizza oder den Pizzadienst vor. In kontrollierten Studien scheitern alle Modelle mit Unterrichten durch Experten, nach einer kurzen Änderung des Verhaltens am Anfang wird langfristig das negative Verhalten verstärkt, der berühmte „Jo-Jo-Effekt“.
Ebenso scheitern meist Projekte, die besondere Risikogruppen behandeln. Man wird nicht auf die Adipositasbehandlung verzichten, die Erfolge sind aber erschreckend gering. Das Ausgrenzen von Menschen, die sich als „stigmatisierte“ Dicke fühlen, führt zu sozialer Isolation, psychischen Störungen und nicht zum Erfolg. Integration in die „Lebenswelten“ ist wichtig und hier ist das neue Gesetz modern.
Wir sind also Berater und nicht Entscheider. Die Entscheidung liegt beim Patienten, der alleine gute, mittelgute oder schlechte Entscheidungen trifft. Wenn wir aber den Patienten beraten und dann überzeugen, dass er bessere Entscheidungen fällen kann, wird er diesen Weg gehen. Dies gilt für Kinder, genauso wie für den alten Menschen. Alle wollen mündig für sich entscheiden. Prävention setzt den Respekt vor der Autonomie voraus.
Wenn die Entscheidungen der Menschen besser werden sollen, müssen wir auch „schlechte“ Entscheidungen respektieren. Was gesundheitsschädigend und ungut gebrandmarkt wird, ist in der persönlichen Erfahrung vieler Menschen gar nicht ungesund, oder zumindest sind die Gefahren doch sehr relativ, und manchmal haben die einfachen Menschen sogar Recht.
Ein gutes Beispiel für „Gutmenschen-Prävention“ ist die Verteufelung von Hamburgern als ungesunde Ernährungsweise. Akuter Hamburger-Genuss führt bei den meisten Kindern zu Wohlbefinden. Schuldgefühle führen zu einer Dissoziation von Empfinden, Wissen und Botschaften und das verstärkt oder neurotisiert das unerwünschte Verhalten. Es ist aber jedem Kind zugänglich, dass allein die Dosis das Problem ist und nicht der arme Hamburger selbst. Der Mythos des angeblich ungesunden Kaffeegenusses wurde lang verfolgt, bis jetzt große Studien zeigen, dass Kaffee gesundheitsförderliche Aspekte hat. Solche Beispiele gibt es viele und welcher normale Mensch glaubt dann noch den Experten?
Auch wir haben das Expertentum für körperliche Bewegung übertrieben. Zweieinhalb Stunden schweißtreibende Arbeit in der Woche kann eine richtige Empfehlung sein, erscheint aber für viele Menschen mit schlechter Fitness und mangelnder Sporterfahrung schlichtweg für unmöglich. Fitte, schlanke Übungsgruppenleiterinnen werden von solchen Menschen bestaunt, eignen sich für diese aber nicht als Rollenmodelle. Jetzt zeigen Studien, dass jeder Schritt einen positiven Effekt hat! Ab 15 Minuten leichter körperlicher Aktivität pro Tag bemerkt man bereits Effekte auf die Leistungsfähigkeit und die Mortalität in großen Populationen. Wieso also so kompliziert? Wieso nicht einfach vor kompliziert?
Auch zeigen alle Studien, ohne Nachhaltigkeit und ohne langjährige Arbeit ist Prävention nicht erfolgreich.
Deshalb sind „low level“, „peer-to-peer” und “active choices” neue Schlagwörter, die wir lernen sollten. Prävention ist die ureigenste Sache eines jeden Menschen selbst. Der Mensch selbst muss handeln, muss Entscheidungen treffen!

Prof. Dr. Jürgen M. Steinacker
Hauptschriftleiter der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin (DZSM)

LITERATUR

  1. DEUTSCHER BUNDESTAG. Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz–PrävG). 2015; 18/4282.
  2. WORLD HEALTH ORGANIZATION (WHO). Global action plan for the prevention and control of noncommunicable diseases 2013-2020. 26.11.2015
    http://www.who.int/nmh/publications/ncd-action-plan/en/
  3. KOBEL S, WIRT T, SCHREIBER A, KESZTYÜS D, KETTNER S, ERKELENZ N, WARTHA O, STEINACKER JM. Interventions Effects of a school-based health-promotion programme on obesity related behavioural outcomes. J Obes. 2014.
    doi:10.1155/2014/476230
  4. DRENOWATZ C, WARTHA O, FISCHBACH N, STEINACKER JM. Intervention Strategies for the Promotion of Physical activity in youth. DtschZ Sportmed. 2013;64:170-175.
    doi:10.5960/dzsm.2012.078
  5. LOBELO F, STEINACKER JM, DUPERLY J, HUTBER A. Physical Activity Promotion in Health Care Settings: the “Exercise is Medicine”Global Health Initiative Perspective. Schweiz Z Sportmed Sporttraumatol. 2014; 62: 42–45.