Exercise Physiology - Integrative & Experimental
Trainingswissenschaft - Integrativ & Experimentell
Im Ausblick auf ihre „Vision Olympia“ 2016 erläutert die derzeitig beste deutsche Hindernisläuferin Gesa Felicitas Krause im Interview ihre Strategie: „Bei dem sportlichen Entwicklungsprozess muss man immer wieder hinterfragen: Was könnte ich noch optimieren, was sollte ich verändern oder wo habe ich geschludert?“ (5).
Zur Optimierung von Trainings- und Erholungsprozessen und Vermeidung von Überlastung unterstützt die trainingswissenschaftliche und sportmedizinische Forschung mit einfachen aber auch mit zunehmend komplexeren Verfahren Informationen über Leistungsentwicklung und Gesundheit an die Athleten weiterzugeben.
Moderne molekulare Untersuchungsverfahren erlauben Anpassungsprozesse individuell zu bestimmen. Anfang der 1990er Jahre wurde erstmals die sogenannte microRNA (Ribonukleinsäure) beschrieben, die wichtige Funktionen im Orchester der Genregulation einnimmt und so zum Verständnis von spezifischen Anpassungsvorgängen, z.B. über die Proteinbiosynthese nach Kraft- und Ausdauertraining beiträgt (10). Die microRNA-Forschung stellt innerhalb der molekularen Biologie ein recht junges Untersuchungsgebiet dar. Der Übersichtsartikel von Meurer et al. „MicroRNAs and Exercise“ fasst die aktuellen Erkenntnisse der microRNA-Forschung hinsichtlich verschiedener Anpassungsreize zusammen (4).
Molekulare Untersuchungen sind teuer und zeitaufwendig, weshalb diese Art der Diagnostik zur unmittelbaren Ableitung von Trainingskonsequenzen (noch) unbrauchbar ist. Für die Trainingspraxis sind simple mit wenig Zeitaufwand verbundene Diagnostika mit hoher Aussagekraft wünschenswert. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift wird ein (einfaches) Testverfahren zur Erfassung der Verletzungsrisikoprognostik im Fußball untersucht. Der Beitrag von Schroeder et al. befasst sich im Speziellen mit dem „Functional Movement Screen for Injury Prediction in Male Amateur Football“ (8). Diese Form des Screenings wurde Mitte der 1990er Jahre mit dem Ziel entwickelt, anhand standardisierter Einzeltests wichtiger konditioneller Grundfähigkeiten, das Verletzungsrisiko in Teamsportarten zu minimieren. Anhand der vorliegenden Studie wird ein Zusammenhang zwischen dem FMS-Test und einem erhöhten Verletzungsrisiko nicht angenommen.
Erholungsstrategien sind ein wichtiger Faktor zur Optimierung von Anpassungsvorgängen und werden derzeit in mehreren Projekten in Deutschland intensiv erforscht (z. B. (6)). Dabei ist die Schlafqualität vor allem durch den Trainingsreiz aber auch durch andere externe und interne Faktoren beeinflusst. Die Schlafqualität und -quantität, insbesondere nach langen Flugreisen, haben direkten Einfluss auf die körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit sowie die Gesundheit einer Person. Kölling et al. fassen in ihrem Übersichtsartikel die allgemeinen Aspekte hinsichtlich Schlaf und Sport zusammen (3).
Die Beiträge dieser Ausgabe zeigen wie vielfältig trainingswissenschaftliche Forschungsthemen sind. Sie reichen von der Erforschung immer kleinerer (molekularer) Strukturen bis hin zur Untersuchung der Verbreitung, Mechanismen und Konsequenzen von gesundheitsbezogenen Zuständen in unterschiedlichen Gruppen. Alle Themen integrieren zahlreiche Fachbereiche und basieren auf experimentell überprüften Daten.
An dieser Stelle möchte ich auf Entwicklungen bzw. Themen in der Trainingswissenschaft aufmerksam machen, die aus meiner Sicht die Trainingswissenschaft in den kommenden Jahren qualitativ weiterentwickeln bzw. prägen werden:
1. TRANSFER KOMPLEXEN WISSENSCHAFTLICHEN WISSENS IN DIE SPORTPRAXIS
Der (trainings-)wissenschaftliche Nachwuchs ist entsprechend neueren Qualifizierungsrichtlinien gezwungen, nach wissenschaftlichen Kriterien und in entsprechenden (meist englischsprachigen) Fachzeitschriften zu publizieren. Trainer und Athleten hingegen (häufig auch Studierende) kennen sich im Wissenschaftsjargon nicht aus, sind u. U. der englischen Fachsprache nicht mächtig oder aber publizierte Arbeiten sind schlichtweg nicht öffentlich zugänglich. Der verständliche Transfer von wissenschaftsbasierten und relevanten Erkenntnissen in die Praxis bei zunehmender Datenfülle und komplexen Fragestellungen wird immer wichtiger werden. So ergibt bspw. die Suche nach „High-Intensity Interval Training“ in der Datenbank PubMed mittlerweile über 1000 Treffer, eine Datenfülle die zunehmend „unbeherrschbar“ erscheint. Formate zum schnellen Wissenstransfer wie z.B. MOOC („Massive Open Online Courses“ (1)), e-Konferenzen, openaccess Veröffentlichungen bzw. die Aufgaben von Wissenschaftskoordinatoren werden zunehmen.
2. STÄRKUNG EVIDENZBASIERTER KRITERIEN IN DER TRAININGSWISSENSCHAFT
In der Medizin werden Therapiemaßnahmen anhand der zur Verfügung stehenden Wissensquellen qualitativ analysiert, klassifiziert und dann entsprechend empfohlen (7). Ein Vorgang, den ich in der Trainingswissenschaft vermisse. Es bedarf mehr qualitativ gut geplanter, randomisierter, kontrollierter und vor allem sportartspezifischer Studien zur Beurteilung unterschiedlicher Trainingsmaßnahmen innerhalb der jeweiligen Sportarten (z. B. Höhentraining, Erholungsstrategien, etc.). Dies würde zu weniger Diskussionen und Unsicherheit über Trainingsmaßnahmen unter Trainer und Athleten führen. Meta-analytische Verfahren nehmen im trainingswissenschaftlichen Kontext zu und sind Grundlagen evidenzbasierter Trainingsempfehlungen. Ein Trend der, sofern methodisch korrekt durchgeführt und sportartspezifisch relevant, zu begrüßen ist.
3. STÄRKERE ANWENDUNG VON EINZELFALLANALYSEN
Etwas im Kontrast zum Appell von evidenzbasierten Studien scheint die Forderung nach Einzelfallanalysen. In der (Sport-)Medizin sind Einzelfallanalysen zur Beschreibung von Krankheitsverläufen hilfreich und stellen wertvolle Beobachtungen typischer oder atypischer Krankheitsverläufe im Spiegel aktuellen Wissens dar. Gerade im leistungssportlichen Kontext verhalten sich Personen mit herausragenden mentalen und körperlichen Voraussetzungen anders als der „Durchschnitt“ und daher erscheint es nur logisch, dass Kasuistiken vermehrt in den trainingswissenschaftlichen Fokus gestellt werden sollten. Eine Öffnung der gestandenen Fachzeitschriften gegenüber Einzelfallanalysen (vor allem im leistungssportlichen Kontext und mit entsprechenden Regeln) wäre zur Stimulation neuer Forschungsimpulse (2) sowie für Leistungssportler.
4. ERFASSUNG VON BIODATEN MITTELS WEARABLES UND POINT-OF-CARE DIAGNOSTIK
Das American College of Sports Medicine hat für 2016 sogenannte „Wearables“ zum Fitnesstrend Nr. 1 erkoren (9). Ähnlich wie bei telemedizinischen Konzepten können miniaturisierte Computer, die am Körper getragen werden, mittlerweile verschiedene Biodaten aufnehmen und mit entsprechender Software wertvolle Unterstützung im Belastungs- und Erholungsmonitoring sein – vergleichbar mit der ersten telemetrischen Herzfrequenzmessung vor gut 30 Jahren. Ein ähnlicher Trend ist im Bereich der athletennahen Labordiagnostik, sogenannter Point-of-Care Diagnostik (auch POCT genannt) zu verzeichnen. Mit einfachen handhabbaren Geräten, können mit minimalinvasivem Aufwand wichtige Parameter für Leistungs- und Erholungssteuerung erhoben werden, ohne komplizierte, teure und aufwendige Laboranalysen. Beide Technologietrends, Wearables und POCT, sind in der Trainingswissenschaft zukunftsweisend, sofern Messgenauigkeit, professionelle Interpretation und Datenschutz vorliegen. Die Kunst zukünftiger Untersuchungen wird allerdings darin bestehen aus der Datenfülle (Big-Data) mit geeigneten Analyseverfahren ernstzunehmende Erkenntnisse für die Trainingspraxis abzuleiten. Die Interpretation wird sicher nur so gut sein wie der Algorithmus der Analysesoftware und wird in keinem Fall den fachkundigen Trainingswissenschaftler ersetzen können. Ob die hier genannten Ausblicke und Forderungen tatsächlich eintreffen wird sich zeigen. Es wird wegweisend sein, integrativ mit anderen (neuen) Wissenschaftsgebieten Forschungsansätze zu verfolgen, Methoden und Verfahren experimentell zu überprüfen, diese in die Trainingspraxis zu integrieren und das Wissen verständlich an die breite Sportpraxis weiterzugeben. Nur so wird die Trainingswissenschaft (weiterhin) eine gestandene Wissenschaftsdisziplin innerhalb der Sportwissenschaft und (Sport-)Medizin bleiben.
LITERATUR
- Creating, curating, and sharing online. Faculty development resources: the medical education in cases. Series experience. Acad Med. Jun 2015; 90: 785-789.
- Five misunderstandings about casestudy. Research. Qualitative inquiry. 2006; 12: 219-245.
- Sleep in Sports: A Short Summary of Alterations in Sleep/Wake Patterns and the Effects of Sleep Loss and Jet-Lag. Dtsch Z Sportmed. 2016; 67: 35-38.
- MicroRNAs and Exercise. Dtsch Z Sportmed. 2016; 67: 27-34.
- „Mein Heimtrainer hat seine eigene Philosophie“. Interview mit Gesa Krause, Leichtathletin 3000-Meter-Hindernis. Leistungssport. 2016; 46: 54-55.
- www.regman.org/. Accessed 15.01.2016.
- Evidence based medicine: what it is and what it isn‘t. 1996. ClinOrthop Relat Res. Feb 2007; 455: 3-5.
- The Functional Movement Screen for Injury Prediction in Male Amateur Football. Dtsch Z Sportmed. 2016; 67: 39-43.
- Worldwide survey of fitness trends for 2016: 10thAnniversary Edition. ACSM‘s Health & Fitness Journal. 2015; 19:9-18.
- The long and short of microRNA. Cell. 2013; 153: 516-519.
Arbeitsbereich Integrative und
Experimentelle Trainingswissenschaft
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Judenbühlweg 11, 97082 Würzburg
billy.sperlich@uni-wuerzburg.de