Sportwissenschaft
EDITORIAL

Sportmedizinische Betreuung und Forschung –
Reflektionen nach einem Olympiajahr

Sport Medicine Support and Research – Reflections on an Olympic Year

Olympische Spiele und Highlights! Das Comeback von Michael Phelps, dessen fünfte Olympiateilnahme und Goldmedaillen 19 bis 23 oder das dritte Triple-Gold von Usain Bolt in Rio faszinieren weltweit.

Aus Sicht eines international geprägt betreuenden und forschenden Sportmediziners fragte ich mich u. a., ob die Häufung von schweren Verletzungen im Turnen auf eine Dysbalance zwischen Leistungs-, Geräte- und Sportstättenentwicklung hinweist. Später ließ mich die hohe Anzahl von schweren Stürzen mit überraschend glücklichem Ausgang jedoch auch mit tödlichen Kopfverletzungen im paralympischen Straßenradrennen über den Begriff „selektives Streckenprofil” nachdenken. Beide Überlegungen betreffen zwar die Gesundheit der Sportler/innen, zählen jedoch nicht zu sportmedizinischer Gesundheitsuntersuchung und sportärztlicher Betreuung in Training und Wettkampf (6).

Spitzenleistung ist Ergebnis komplexer Prozesse

Höchst spannend fand ich die Befeuerung der Debatte zu Spezialisierung vs. Vielseitigkeit. Einige Schwimmer/innen, z.B. Katinka Hosszu, waren bei Mehrfachstarts erfolgreicher als Konkurrenten/innen, die sich ausschließlich auf eine Strecke konzentrierten. Die Siebenkämpferinnen Nafissatou Thiam und Katarina Johnson-Thompson sprangen gemeinsam auf Rang 4 der Hochsprungjahresbestenliste (3). Wie ist die ideale Mischung von Vielseitigkeit und Spezialisierung?
Auch in Rio konnte man wieder Ergebnisse brillanter aber auch desaströser Vorbereitung bzw. Planung von Qualifikationswettkämpfen beobachten. Viele Athleten/innen erreichten oder übertrafen ihre Ziele. Andere konnten die Erwartungen nicht erfüllen und glänzten mit Bestleistungen deutlich vor oder nach den Spielen.
Die Unterstützung sportartspezifischer Trainings-/Leistungssteuerung ist Aufgabe der Sportmedizin (6). Voraussetzung dafür ist gesichertes Wissen über die Wirkung und Dynamik spezifischer Trainingsmaßnahmen. Die Sportmedizin kann hierbei auf umfangreiche, zunehmend evidenzbasierte jedoch primär retrospektiv-deskriptive Befunde zurückgreifen. Leistungslimitierende Faktoren zahlreicher Sportarten sind jedoch nicht definiert. Dynamik und komplexes Zusammenspiel potentiell leistungssteigernder adaptiver Prozesse sind unklar. Wissenschaftlich begründete Interventionen im Sinne individualisierter Modulation von Belastungsform, -intensität und -umfang in Abhängigkeit von Sportart und spezifischen sozioökonomischen Settings sind immer noch schwer bis unmöglich (1, 7).
Bei Olympischen Spielen messen sich die besten Athleten/innen. Dennoch werden selten Weltrekorde verbessert. In Rio waren es 22 (8 im Schwimmen, 6 beim Gewichtheben, 5 im Radsport und 3 in der Leichtathletik), 15 Rekorde weniger als in London aber vergleichbar zu 20 bis 37 bei allen Olympiaden seit 1996. Radsport und Leichtathletik zeigen typische Entwicklungen. 1981 stellte Jelena Sipatowa mit 32:17.20min den ersten Weltrekord über 10 000m der Frauen auf. Dieser wurde bis 1993 achtmal auf 29:31.78min gesteigert. Der Olympische und Weltrekord von Almaz Ayana, 29:17.45min, war die einzige Verbesserung in 23 Jahren. Bestzeiten über 400m der Männer stagnieren nahezu seit Einführung der elektronischen Zeitmessung 1968 in Mexico City. Lee Evans 43.86s wurden in 48 Jahren viermal verbessert. Wayde van Niekerk erreichte in Rio 43.03s. Seit 2013 gibt es die 4000m Mannschaftsverfolgung im Frauen-Bahnradsport mit 11 Weltrekorden. Die naheliegende Überlegung, dass Weltbestleistungen leichter in jungen Sportarten erreichbar sind, ist dennoch vereinfachend. Jeweils ein Rekord wurde von Australien und den USA aber 9 Rekorde durch das Team von Großbritannien erreicht. Die 4000m Mannschaftsverfolgung der Männer zeigt seit ca. 30 Jahren einen überraschend kontinuierlichen Leistungstrend. Die Sowjetunion dominierte bis zur Zulassung von Profisportlern, gefolgt von Australien bis 2004. Großbritannien errang 2000 nach 24 Jahren erstmals wieder eine Goldmedaille, stellte aber seit 2008 alle Rekorde auf (3). Schlüssel zu diesen Erfolgen sind nicht nur eine bestmögliche physische Vorbereitung sondern auch Velodrom-spezifische Rennstrategien, Materialeigenschaften und -design. Sie reflektieren die Arbeit eines multidisziplinären Expertenteams teilweise mit Unterstützung aus der Formel 1.

Spitzenleistung benötigt Ressourcen

Das 4-jährige Vorbereitungsprogramm von British Cycling für Rio wurde mit 30,2Mio £ (ca. 40Mio €) gefördert und erreichte 11 Medaillen (3). Laut Auskunft der Bundesregierung (5) können die olympischen Spitzensportverbände 2017 mit staatlichen Zuweisungen in Höhe von 62,79Mio € rechnen – eine beträchtliche Summe jedoch im Vergleich zu den Ressourcen von British Cycling unspektakulär. Sie begründet dennoch die Position des Innenministers: „Die harte Währung der Förderung sind auch Medaillen“ mit zusätzlichem Verweis auf Rechnungshöfe (Thomas de Maiziére 11.03.15).
Bewertet man Medaillen entsprechend hoch, sind die Kosten Großbritanniens (65 Mio Einwohner, 67 Medaillen, Platz 2 im Medaillenspiegel) mit ca. 5,2 Mio € pro Medaille ein „Schnäppchenpreis“. Australien (24 Mio Einwohner, 29 Medaillen) verauslagte in Rio ca. 9 Mio € pro Medaille. Eine vergleichende Analyse für Deutschland (82 Mio Einwohner, 42 Medaillen) ist auf Grund geringerer Transparenz leider nicht möglich. Wie auch immer, im Vergleich zu 1,3 Mrd € Einnahmen des IOCs, nahezu dem 4-fachen Budget der Vorbereitung des gesamten Olympiateams Großbritanniens für Tokyo, allein durch Vermarktung der Medienrechte der Olympischen Spiele 2018-2024, erscheinen die o. g. Kosten gering (3, 8).
Dennoch, die seit nunmehr 2 Jahren andauernde kosten- und erfolgsbedingte Diskussion zur Revision des Deutschen Leistungssports war wichtig und fruchtbar. Defizite und die Notwendigkeit von strukturellen und inhaltlichen Reformen wurden klar erkannt (4).

Spitzenleistung benötigt wissensbasierte Betreuung

Die dadurch bestärkte zentrale Forderung nach einer „optimalen Zusammenführung und Vernetzung von Wissenschaft und Spitzensportpraxis“ betrifft die Sportmedizin vielfältig. Unbestritten scheinen die Aufgaben zur Gesunderhaltung der Sportler/innen bei unmittelbarer Nutzung des kontinuierlichen Wissensgewinns in fachärztlichen Spezialisierungen. Die Betonung multidisziplinärer Forschungsperspektiven ist bei hinreichenden Ressourcen auch für die Sportmedizin gewinnbringend. Unklar, möglicherweise sogar kontraproduktiv eng interpretiert erscheint hingegen der Begriff „wissenschaftliche Unterstützung“. Eine eindeutige Differenzierung zwischen wissenschaftlich begründeter Betreuung und Forschung fehlt. Wissenschaftlich begründete Betreuung nutzt vorhandenes Wissen in athleten-, trainer- und verbandsfokussierter Trainings- und Wettkampfpraxis sowie Aus-, Fort- und Weiterbildung.

Spitzenleistung benötigt erweitertes Wissen durch international kompetitive Forschung

Forschung ist theoriegeleitet und beantwortet Fragen zum besseren Verständnis vielfältiger, komplexer, leistungsbestimmender Faktoren und potentiell leistungssteigernder dynamischadaptiver Prozesse, selten mit unmittelbarem Nutzen für die Praxis jedoch hohem Potential für mittel- bis langfristigen Nutzen (2). Die verstärkte Absicht, Projekte speziell auf Verbandsebene zu initiieren und umzusetzen, eröffnet Vorteile einer engeren Anbindung an ausgewählte Sportarten. Sie birgt jedoch auch Gefahren, dass Forschung zu sportartübergreifenden, belastungsstrukturabhängigen Fragen adaptiver, leistungs- bzw. gesundheitsrelevanter Mechanismen zu Gunsten kurzfristig realisierbarer betreuungsnaher Maßnahmen zurückgestellt wird. Dadurch können mittel- und langfristig relevante Wissens- und Innovationsdefizite für den deutschen Hochleistungssport im Vergleich zu stärker forschungsaktiven Nationen folgen (2, 3, 7).
Wissenschaftlicher Austausch ist ein kritischer Test neuer Erkenntnisse und Quelle neuer Fragen. Kernstück dieser Grundlage möglichen Wissensgewinns ist das Publizieren in Konkurrenz mit und bei Beurteilung durch international führende Wissenschaftler. Die Chance, dass ein forschungsbasiertes Manuskript nach Revision in einer internationalen Top-Zeitschrift publiziert wird, ist unter 20%. Anwendung aktuellen Wissens als zentrales Element sportmedizinischer Betreuung kann retrospektiv-wissenschaftlich korrekt beschrieben jedoch nur äußerst selten prospektiv-theoriegeleitet forschend analysiert werden. Somit ist es nahezu unmöglich Betreuungsbefunde kompetitiv zu publizieren.
Im Leistungssport werden auch international Forschungsbefunde mit unmittelbarem Wettbewerbsvorteil verzögert publiziert. Das stellt die international sehr hohen Erwartungen des Nutzens theoriegeleiteter Forschung und den hohen Stellenwert wissenschaftlichen Publizierens nicht in Frage. Ein Beleg für diese Aussage ist, dass die z. Z. international höchst bewertete leistungsphysiologisch- bzw. leistungssportorientierte Zeitschrift vor 11 Jahren am „Australian Institute of Sport“ aus der Wiege gehoben wurde. Das Editorial Team zählt hochleistungssportaktive Forscher aus 9 Nationen. Jeder war im letzten Olympiazyklus in die Vorbereitung von Athleten auf internationale Großereignisse eingebunden.

Hoffnung nach 2 Jahren Diskussion zur Revision des Deutschen Spitzensports

Die Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin vertritt das Querschnittsfach Sportmedizin sowohl für den Praktiker als auch für den Wissenschaftler in voller Breite. Der Verbreitungsgrad ist beeindruckend. Dieses Editorial im bedeutendsten sportmedizinischen Fachjournal deutscher Sprache möge dazu beitragen, dass Reformen zu Rahmenbedingungen sportmedizinischer Forschung im faszinierenden Feld des deutschen Spitzensports internationale Entwicklungen konstruktiv berücksichtigen und Weitblick zeigen.

LITERATUR

  1. BENEKE R. Systematic training: from “master classes“ to “science“. Int J Sports Physiol Per-form. 2012; 7: 199.
    doi:10.1123/ijspp.7.3.199
  2. BENEKE R. Sport performance research: sexy, underfunded and underutilized. Int J Sports Physiol Perform. 2013; 8: 349-350.
    doi:10.1123/ijspp.8.4.349
  3. BENEKE R. Afterthoughts on an Exciting Summer. Int J Sports Physiol Perform. 2016; 11: 985-986.
    doi:10.1123/IJSPP.2016-0593
  4. BUNDESMINISTERIUMS DES INNERN. Neustrukturierung des Leistungssports und der Spitzensportförderung – Gemeinsames Konzept des Bundesministeriums des Innern und des DeutschenOlympischen Sportbundes unter Mitwirkung der Sportministerkonferenz. [24. November 2016].
    https://www.dosb.de/de/leistungssport/leistungssportreform/
  5. DEUTSCHER BUNDESTAG. PuK 2-Parlamentsnachrichten: Geplante Sportfördermittel für 2017. [22. August 2016].
    https://www.bundestag.de/#url= L3ByZXNzZS9oaWIvMjAxNjA4Ly0vNDc3MDU4&mod=- mod445722
  6. DEUTSCHER BUNDESTAG. Drucksache 18/3523, 13. Sportbericht der Bundesregierung. [5. Dezember 2014].
    https://www.bundestag.de/#url=L2Rva3VtZW50ZS90ZXh0YXJjaGl2LzIwMTYva3c1MC1kZS0xM- 3Nwb3J0YmVyaWNodC80ODM5Mzg=&mod=mod445720
  7. SEILER S, BENEKE R. I is for International and S is for Sport. Int J Sports Physiol Perform. 2014; 9: 2-4.
    doi:10.1123/ijspp.2014-1002
  8. UK SPORT. Goal set for Tokyo 2020 as investment figures are announced. [8. Dezember 2016].
    http://www.uksport.gov.uk/news/2016/12/08/ goal-set-for-tokyo-2020-as-investment-figures-are-announced
Prof. Dr. med. Dipl.-Sportl. R. Beneke
Abt. Medizin, Training und Gesundheit
Inst. Sportwissenschaft und Motologie
Philipps Universität Marburg
Jahnstr. 12, 35037 Marburg
ralph.beneke@staff.uni-marburg.de