Evidenz in der Orthopädie - am Beispiel der Behandlung der Rotatorenmanschettenruptur
Evidence-based Medicine in Orthopaedic Surgery: Treatment of Rotator
Cuff Ruptures
Der Orthopäde und Sportmediziner findet sich nach Abschluss seiner Ausbildung in einem vielseitigen Spannungsfeld wieder. Der originäre Wunsch, dem Patienten bestmöglich zu helfen, wird auf der einen Seite beschnitten von wirtschaftlichen Zwängen, wie mangelnder stationärer und ambulanter Behandlungskapazitäten, und einem Mangel an sowohl materiellen als auch personellen Ressourcen. Auf der anderen Seite versucht die Industrie, die ein Motor für wichtige Innovationen ist, ihre neuesten Entwicklungen in die Klinik einzubringen. Aufgrund zunehmender wirtschaftlicher Zwänge, der eigenen Bequemlichkeit und der Verzahnung mit der Industrie kann es für den Arzt schwierig werden, sich – wie es in der Ausbildung gelehrt wird – an den verfügbaren Daten und Studienergebnissen hinsichtlich der zuverlässigsten und der am besten mit den Ressourcen abgestimmten Behandlung zu orientieren. Dies unterstreicht die Wichtigkeit einer Evidenz basierten Beurteilung der verschiedenen Behandlungsoptionen. Am Beispiel einer häufigen Pathologie in der Orthopädie, nämlich der Rotatorenmanschettenruptur (RMR), soll die aktuelle Studienlage dargestellt werden.
Die RMR tritt mit zunehmendem Alter auch bei asymptomatischen Schultern auf, Studien berichten von Inzidenzen von 23% bei Patienten, die älter als 50 Jahre sind (16). Warum asymptomatische Risse bei manchen Patienten zu Beschwerden führen, ist unklar - wahrscheinlich spielt die Größe des Risses (>3cm), die Degeneration und Atrophie des Muskels und die gestörte Balance der vorderen und hinteren Anteile der Rotatorenmanschette eine wichtige Rolle (13). Die Behandlungsoptionen reichen von der konservativen bis zur operativen Therapie. Symptomatische RMR werden zunehmend operativ versorgt, da eine Zunahme der Rissgröße und möglicherweise eine Situation drohen, in der wegen zunehmender Retraktion und Sehnendefekte keine Refixation mehr möglich ist (17). Bei der operativen Therapie ist ein starker Trend zur minimalinvasiven Therapie zu beobachten, um die peri- und postoperative Morbidität zu minimieren. Anhand von aktuellen Metaanalysen soll im Folgenden die Datenlage dargestellt werden (3, 9).
Bei der konservativen Therapie ergab eine intraartikuläre Injektion von Kortison oder Hyaluronsäure keine signifikante Verbesserung über 4 Wochen (15). Die „Moon group“ untersuchte 400 symptomatische vollschichtige atraumatische RMR in einer prospektiven Kohorten Studie: Bei 90% erreichte eine physiotherapeutische Behandlung über 6 Wochen eine Schmerzreduktion. In einer hochwertigen, prospektiv randomisierten Studie bei 103 Patienten mit RMR <3cm erwies sich allerdings die chirurgische Intervention der physiotherapeutischen in Bezug auf die Schmerzreduktion, Verbesserung der Beweglichkeit und die Werteskalen (Constant und ASES) über 12 Monate überlegen (14). Zwei Arbeitsgruppenuntersuchten die arthroskopische RM Rekonstruktion mit und ohne subakromialer Dekompression und fanden keinen zusätzlichen Nutzen der Dekompression bei der Auswertung der gängigen Werteskalen über 1 Jahr (6, 12). Die Doppelreihentechnik erwies sich in 3 Studien als nicht besser bezüglich der Constant Werteskala, MRI Arthrographie und der Kraftwerte nach 1- 2 Jahren (2, 5, 7). Die arthroskopische Seit-zu-Seit RMR Refixation war in einer Studie der ossären Refixation der Sehne unterlegen (1). Eine Augmentation einer RMR Refixation mit dezellularisierter Schweine-Submucosa ergab keinen Nutzen, sondern eine erhöhte Sekretions- und Komplikationsrate (10).
Bei der postoperativen Behandlung ergab der Einsatz einer kontinuierlichen, passiven Bewegungsbehandlung („CPM“) in einem Bewegungsapparat bezüglich der Schmerzreduktion keinen Vorteil gegenüber einer manuellen passiven Bewegungstherapie (4, 11). Ein standardisiertes Heimübungsprogramm erwies sich über 12 und 24 Wochen in einer Studie bzgl. Beweglichkeit und Kraft im Vergleich zu einem individuellen Physiotherapieprogramm als gleichwertig (8).
Wie werden nun diese teilweise hochwertigen Studienergebnisse in die Praxis übertragen, vorausgesetzt man erfährt von ihnen? Ein einigermaßen erfahrener Wissenschaftler weiß, dass es sich immer empfiehlt, den Abschnitt „Material und Methoden“ der einzelnen Studie genau zu lesen, um die Ergebnisse richtig interpretieren zu können. Wie wurde zum Beispiel die Doppelreihenrefixation der RMR durchgeführt? Ist diese Technik deckungsgleich mit der eigenen? Wurde die Physiotherapie standardisiert nach einem Heimübungsprogramm durchgeführt und lässt sich dies auch bei den eigenen Patienten umsetzen? Wie wurde die subakromiale Dekompression im Einzelnen durchgeführt, wie viel Knochen wurde entfernt?
Ich halte es für unbedingt sinnvoll, die eigene Routine immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und sich kritisch im Detail mit neueren, wichtigen prospektiv-randomisierten Studien auseinanderzusetzen. In der Ambulanz fällt immer mehr auf, dass wegen der Budgetierung kaum noch Physiotherapie bei Schultererkrankungen rezeptiert wird, obwohl es die Schmerzen lindert. Wie oben dargestellt gibt es belastbare wissenschaftliche Daten darüber, dass die Patienten mit einer RMR (hier <3cm) langfristig von einer chirurgischen Intervention profitieren. Oft wird älteren, aber aktiven Patienten von den primär behandelnden Ärzten aber eher nicht zur Operation geraten, da die Ergebnisse an der Schulter „sowieso schlecht werden“. Ferner stellt sich bei der häufig durchgeführten subakromialen Dekompression tatsächlich die Frage, ob der Patient von einer großen Knochenentfernung profitiert, oder ob der Knochen und ggf. Metallabrieb der Walze auch nachteilige Effekte haben. Die Welle des Enthusiasmus zur Doppelreihenfixierung bei RMR flaut aktuell wieder ab, und es ist zu überlegen, ob der erhöhte zeitliche und materielle Aufwand gerechtfertigt ist. Es erscheint auf der anderen Seite logisch, dass eine Refixation der Sehne am Knochen langfristig bessere Ergebnisse hat als eine nicht anatomische Fixation mit Seit-zu-Seit Nähten, auch wenn man sich dabei die Implantation von Ankern sparen kann. Bei der Verwendung von dezellularisertem Gewebe zur Augmentation oder sogar zur Überbrückung von RMR sollte der Chirurg sich die Studienergebnisse des verwendeten Implantats genau ansehen, um dem Patienten im schlimmsten Fall nicht sogar zu schaden. Die Erprobung neuerer Implantate sollte möglichst in kontrollierten Studien erfolgen, bevor diese dem Anwender breit angeboten werden. Die verschiedenen Konzepte zur postoperativen Physiotherapie sollten am ehesten mit den Krankenkassen diskutiert werden und möglicherweise in strukturierte Übungsprogramme implementiert werden.
Zusammenfassend soll dieses Editorial ein Plädoyer dafür sein, sich auch gegen den Strom und gegen die eigene Bequemlichkeit mit der aktuellen Studienlage auseinander zu setzen und danach zu handeln, weswegen wir angetreten sind: Unseren Patienten bestmöglich zu helfen.
LITERATUR
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