Sportmedizin
ÜBERSICHT
SERIOUSGAMES IN PRÄVENTION UND REHABILITATION

Gesundheit auf dem Spiel? - Serious Games in Prävention und Rehabilitation

Gaming for Health – Serious Games in Prevention and Rehabilitation

Institut für Sportwissenschaft, Technische Universität Darmstadt

ZUSAMMENFASSUNG

Während Spiel(en) im Allgemeinen eher positiv konnotiert ist, gilt dies für digitale  Spiele  (Computer-  und  Videospiele  sowie  Spiele  auf  mobilen  Geräten)  nicht in gleicher Weise. Digitale Spiele werden eher mit Sucht- und Abhängigkeitsgefahren  sowie  psychosozialen  und  medizinischen  Beeinträchtigungen  in  Verbindung  gebracht.  Andererseits  sind  auch  zahlreiche  Forschungs-  und  Entwicklungsaktivitäten  zu  erkennen,  die  –  im  Sinne  von  „Serious  Games“  –  darauf abzielen, Spiele für ernsthafte Einsatzzwecke nutzbar zu machen.
In  diesem  Beitrag  werden  die  Erkenntnisse  zum  Einsatz  von  Serious  Games  in der  Prävention  und  Rehabilitation  kritisch  diskutiert.  Als  Ergebnis  zeigt  sich, dass  Serious  Games  ohne  Zweifel  ein  großes  Potenzial  aufweisen;  so  zeigen sich  signifikante  Anstiege  des  Energieverbrauchs  sowie  elementare  Wahrnehmungs-  und  Koordinationsleistungen.  Auch  die  Therapie  von  Krebs,  Diabetes, Asthma,  Verbrennungen  und  Hirnerkrankungen  profitiert  von  Serious  Games. Häufig  werden  Serious  Games  auf  der  Grundlage  differenzierter  Wirkungsmodelle entwickelt und evaluiert. Allerdings genügen die vorliegenden Studien selten den wissenschaftlichen Qualitätskriterien. Außerdem sind viele Fragen noch ungeklärt: Dosis-Wirkungs-Beziehungen, Nachhaltigkeit und geeignete Settings.

Schlüsselwörter:  Games  for  Health,  Exergames,  Energieverbrauch, Bewegungstherapie, Koordination.

SUMMARY

Whereas the connotation of gaming in general is positive, this does not hold for digital  games  (i.e.,  computer  and  video  games,  and  games  on  mobile  devices). Digital games are suspected of causing addiction and dependency as well as psychosocial and physical impairments. On the other hand, numerous activities have evolved that intent to make use of digital games for serious purposes.In this contribution the findings concerning the application of serious games in prevention  and  rehabilitation  is  critically  discussed.  As  a  result,  serious  games without  doubt  have  a  great  potential  for  prevention  and  rehabilitation;  energy expenditure can be increased, as well as elementary perceptual-motor performance. Therapy of cancer, diabetes, asthma, burns, and brain injuries profits from serious games. Often serious games are developed and evaluated based on sophisticated effect models. On the other hand many research studies suffer from poor design and do not fulfil the criteria for high-quality scientific research. Furthermore, many questions are still unanswered: Dose-response relationship, sustainability, and appropriate settings.

Key  words: Games  for  health,  exergames,  energy  expenditure,  motor  therapy, coordination.

EINLEITUNG

Spielen ist eine fundamentale menschliche Tätigkeit, der aus entwicklungstheoretischer und pädagogischer Sicht positive Effekte zugeschreiben  werden  (31).  Spielen  wird  zum  Selbstzweck  und zwanglos  betrieben  (intrinsische  Motivation),  kann  zu  Flow-Erlebnissen führen, ist scheinhaft-fiktiv. Man kann die Realitätsbezüge  zwanglos  wechseln.  Das  Spiel  ist  zugleich  offen  bezüglich Verlauf  und  Ausgang,  aber  auch  geschlossen  bezüglich  der  Regeln  und  Spielbedingungen.  Spiele  haben  gewöhnlich  einfache Zielstrukturen. Spiele vermitteln ein Gefühl der Unmittelbarkeit, indem  auf  alle  Spielaktionen  unmittelbare  Reaktionen  erfolgen. Spiele  motivieren  und  aktivieren;  sie  können  –  Ritual-ähnlich  – beliebig oft wiederholt werden. Spiele tragen in dieser Sichtweise zu einer gesunden Entwicklung bei.
Angesichts der positiven Konnotation von Spielen allgemein ist es erstaunlich, dass digitale Spiele eher eine negative Konnotation  aufweisen  und  mit  einer  Gefährdung  der  Gesundheit  in Verbindung  gebracht  werden  (14, 21, 29):  Digitale  Spiele  –  hier verstanden als Oberbegriff von Computer-, Video- und mobilen Spielen (39) – können abhängig bzw. süchtig machen, Aggressionen  hervorrufen,  Augen-,  Rücken-  und  Kopfschmerzen,  Sehstörungen, Halluzinationen und sogar epileptische Anfälle verursachen. Außerdem können digitale Spiele von anderen sinnvollen Aktivitäten  abhalten,  z.B.  Bewegungs-  und  Sportaktivitäten – mit der Sekundärfolge Übergewicht oder Adipositas. Diese Gefahren  sind  ohne  Zweifel  vorhanden  und  ernst  zu  nehmen;  sie gelten allerdings nur für bestimmte Spielgenres und spezifische Bedingungen (29).
Seit einigen Jahren existieren verstärkte Bemühungen, digitale  Spiele  für  ernsthafte  Einsatzzwecke  einzusetzen  („Serious Games“).  Unter  dem  Label  „Exergames“  oder  „games  for  health“ werden  Serious  Games  gezielt  zur  Gesundheitsförderung  entwickelt,  eingesetzt  und  evaluiert.  In  diesem  Beitrag  sollen  die Möglichkeiten und Grenzen von Serious Games für die sportmedizinisch orientierte Prävention und Rehabilitation kritisch diskutiert werden. Dabei wird Gesundheit in Anlehnung an die WHO (40), ähnlich (30)) als ein Zustand des Wohlbefindens verstanden, der physische, psychische und soziale Aspekte umfasst. Zunächst werden  die  bestehenden  Forschungs-  und  Entwicklungsaktivitäten  in  diesen  beiden  Anwendungsbereichen  in  Anlehnung  an das  vierstufige  Bewertungssystem  GRADE  (14)  und  unter  Berücksichtigung der CONSORT- Kriterien (26) kritisch diskutiert; in einem dritten Schritt werden die Wirkungsmodelle dargestellt.

SERIOUS GAMES IN DER PRÄVENTION

Zum Einsatz von Serious Games in der Prävention sind zahlreiche Publikationen erschienen, die erhebliche Unterschiede im Hinblick auf  die  Forschungsmethodik  aufweisen  (3, 21, 23):  Das  Spektrum reicht  von  randomisierten  Kontrollgruppenstudien  mit  Prä-  und Posttest über Untersuchungen ohne Prätests bis zu prospektiven Längsschnittstudien. Mehrere Studien analysieren die Effekte von digitalen  Spielen  auf  Bewegung,  Koordination,  Wahrnehmung, Ernährung und Asthma. Darüber hinaus existieren einzelne Wirkungsstudien  zur  Sucht-  und  Gewaltprävention  (3, 23, 24)  sowie zum Sexualverhalten (35).
Durch  die  Entwicklung  neuer  Eingabemöglichkeiten  (z.  B. Kontaktmatte,  Videokamera,  Kraft-  und  Bewegungssensoren)  eröffnen sich Optionen, Spiele mit Hilfe von Ganzkörperbewegungen zu steuern, um einerseits die Authentizität der Spielinteraktionen und andererseits den Energieverbrauch zu erhöhen.
Die vorliegenden Studien zu physiologischen Effekten werden zunächst  im  Überblick  vorgestellt  und  diskutiert,  um  die  Ergebnisse in einem zweiten Schritt zu aggregieren.

Tabelle 1 zeigt, dass digitale Spiele das kardiopulmonale und respiratorische  System  in  unterschiedlichem  –  überwiegend  moTabelle 1: Psychophysiologische Effekte von Exergames im Überblick.deratem  –  Ausmaß  aktivieren.  Die  Studien  zeigen  deutliche  Unterschiede  hinsichtlich  des  Alters  der  Probanden,  des  Designs, der eingesetzten Messmethoden und der Treatmentbedingungen. Folgt man dem GRADE-Schema, so kann diesen Studien auf Grund der  methodischen  Defizite  (mangelnde  experimentelle  Kontrolle, fehlende Randomisierung, Stichprobenbeschreibung bzw. -ziehung etc.) in der Regel nur eine moderate bis sehr geringe methodische Qualität attestiert werden.
In Abb. 1 wurden die Ergebnisse der experimentellen Studien im Hinblick auf EE – gewichtet nach den jeweiligen Stichprobenumfängen – zusammengefasst (2, 5, 9, 13, 22, 34, 36).
Abb.  1  ist  zu  entnehmen,  dass  das  Spielen  von  klassischen Konsolenspielen (Xbox und Playstation 2) zu relativ geringen Anstiegen  des  Energieverbrauchs  führt.  Das  Spielen  von  DDR,  zeigt die  höchsten  Energieverbrauchsraten  (über  400  kcal/h),  während bei der Wii-Konsole der Energieverbrauch abhängig vom Spiel ist. Allerdings liegt der Energieumsatz beim realen Spiel zwischen 14 und  121%  höher  als  beim  virtuellen  Spiel  (2, 13).  Trotzdem  kann man die erzielten Intensitätswerte als prinzipiell trainingswirksam einstufen, wenn man von einer kritischen Schwelle von 160 bis 180 kcal/h (entspricht einer moderaten Beanspruchung von ca. 3 MET) ausgeht. Um das trainingswirksame Minimalvolumen von 600 bis 800 kcal pro Woche zu erreichen, muss – je nach Spiel – zwischen 2 und 5 Stunden pro Woche gespielt werden. Die Befunde von Längsschnittuntersuchungen  (19, 25)  lassen  Zweifel  daran  aufkommen, ob diese ambitionierten Vorgaben tatsächlich über längere Zeit eingehalten werden können. Weiterhin zeigen Befunde von Tan et al. (34), dass die mittlere Spieldauer in Spielcentern („Arcadenspiele“) bei 6.1 ± 3.0 Minuten liegt; Spieldauern von 20 Minuten werden selten erreicht; die Autoren räumen ein, dass beim heimischen Spielen möglicherweise längere Spielzeiten erreicht werden. Insgesamt ist also fraglich, ob die erforderliche Dauer und damit der Gesamtumfang der Bewegungsaktivität – sowohl beim einzelnen Spiel als auch langfristig – erreicht bzw. aufrechterhalten werden kann.

Die meisten Studien zur Wahrnehmungsschulung wurden im Bereich  räumlicher  Wahrnehmung  als  methodisch  hochwertige randomisierte  und  kontrollierte  Studien  durchgeführt  (21).  Hier werden ausnahmslos positive Effekte gefunden. Insgesamt ist entscheidend, welche spezifischen Anforderungen das jeweilige Spiel primär  an  die  Wahrnehmung  und  Koordination  der  Spielenden stellt (12).
Präventive  Koordinationsschulungen  wurden  im  Bereich  der Reaktionsfähigkeit  und  des  Gleichgewichts  durchgeführt.  Alle – überwiegend hochwertigen – Studien zeigen ausnahmslos, dass durch  die  Nutzung  digitaler  Spiele  elementare  Reaktions-  und Gleichgewichtsleistungen  verbessert  werden  konnten.  Die  Studie von Brumels et al. (7) an 25 Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren ergab, dass die Effekte von digitalen Spielen im Vergleich zu  einem  traditionellen  Gleichgewichtstrainingsprogramm  differenziell ausfielen (Dauer: 4 Wochen, 3 Trainingseinheiten von jeweils 12 bis 15 Minuten Dauer pro Woche): Während sich beim traditionellen Gleichgewichtstraining die Leistung bei einer statischen Bewegungsreichweite-Aufgabe  (Star  Excursion  Balance  Test)  signifikant verbesserte, zeigten die beiden Spielgruppen (DDR und Wii fit) signifikant ausgeprägtere Verbesserungen in der Schwankungsweite des Körperschwerpunkts im Stand. Die Probanden der beiden Spielgruppen empfanden das Training als subjektiv leichter und steigerten ihre Freude signifikant stärker als die traditionelle Trainingsgruppe. Bei dieser Studie waren die Gruppengrößen mit Teilnehmerzahlen zwischen 5 und 7 sehr klein.
Im Bereich der Ernährungs-, Rauch- und Asthma-Prävention wurden ebenfalls digitale Spiele erfolgreich eingesetzt und evaluiert  (3, 6, 23, 24).  Die  Qualität  der  Studien  reicht  von  quasiexperimentellen  Prä-Post-Designs  bis  zu  randomisierten  kontrollierten klinischen  Experimenten.  Typische  Effekte  dieser  Spiele  sind  ein verbessertes  Wissen,  eine  veränderte  Einstellung  sowie  eine  erhöhte  Motivation  und  Selbstwirksamkeitsüberzeugung,  die  sich dann in verändertem Verhalten und Erleben (verbesserte Symptomatik, reduzierte Notfälle) manifestieren. Konkrete klinische Parameter werden allerdings relativ selten erhoben.
Trotz dieser insgesamt positiven Befundlage sind noch zahlreiche Fragen offen: Neben einer Reihe von methodischen Defiziten  ist  ein  Hauptproblem  das  weitgehende  Fehlen  von  Langzeitstudien. Insbesondere im Bereich der Bewegungsspiele dominieren fast ausnahmslos Kurzzeitstudien, so dass noch nicht klar ist, ob sich  das  prinzipiell  vorhandene  Potenzial  tatsächlich  in  nachhaltigen  präventiven  Effekten  manifestieren  kann  (25).  Weiterhin  ist die  Dosis-Wirkungs-Beziehung  kaum  erforscht.  Die  trainingswissenschaftliche,  didaktische,  psychologische  und  lerntheoretische Fundierung und das geeignete Setting sind noch nicht hinreichend geklärt.  Um  eine  nachhaltige  Bindung  an  präventiv  betriebenes digitales Spieltraining zu erzeugen, müssen auch die Befunde der sportpsychologischen Bindungsforschung (38) berücksichtigt werden. Konkrete theoretische Interventionsmodelle werden zum Teil nicht expliziert oder sie sind sehr stark psychologisch akzentuiert, während sensomotorische und physiologische Aspekte noch kaum berücksichtigt werden. Im Hinblick auf das Koordinationstraining ist die Frage besonders wichtig, unter welchen Bedingungen Transfereffekte in Alltag, Beruf, Freizeit und Sport zu erwarten sind (39).

SERIOUS GAMES IN DER REHABILITATION

Vorläufer  des  Einsatzes  digitaler  Spiele  in  der  Rehabilitation  sind die  Entwicklung  geeigneter  Interfaces  (1, 27)  sowie  erste  Anwendungen von Spielen als Motivationsinstrument in der Krebstherapie (28) oder Bewegungstherapie (33) in den 1980er Jahren. Mittlerweile  sind  eine  Fülle  von  Spielen  in  verschiedenen  Anwendungsbereichen  entwickelt,  eingesetzt  und  zum  Teil  erfolgreich  evaluiert worden, wobei auch hier eine außerordentlich große methodische Heterogenität zu beklagen ist:

  • Krebstherapie    –    Shooterspiel    „Re-Mission“    (19)
  • Therapie    von    Verbrennungen    –    spezielle    Joysticks    (1)
  • Diabetes-Therapie    –    verschiedene    Abenteuerspiele    (6, 23, 24)
  • Therapie    von    Asthma    und    Atemwegserkrankungen    –    Abenteuerspiele (3, 23, 24, 37)
  • Bewegungstherapie    nach    neuronalen    Läsionen    –    einfache Geschicklichkeitsspiele mit speziellen oder kommerziellen Eingabegeräten wie Druckmatte oder Spezialjoystick (4, 10, 17, 20, 32).

Brown et al. (6) konnten in einer sechsmonatigen randomisierten Feldstudie an 59 Diabetespatienten im Alter von 6 bis 16 Jahren nachweisen, dass sich verschiedene abhängige Variablen (Selbstwirksamkeitsüberzeugung,  Kommunikation mit  den  Eltern,  Selbstmanagement,  Zahl  der Notfallbesuche  im  Krankenhaus)  signifikant verbesserten.
Zur Therapie bei Atemproblemen infolge  muskulärer  Dystrophie  nach  Duchenne setzten Vilozni et al. (37) bei 15 Patienten über 5 Wochen (30 Tage à 20 Minuten Training) ein durch  Inspiration  und  Exspiration  kontrolliertes Computerspiel ein. Sie fanden nur bei Patienten mit moderaten Beeinträchtigungen positive Effekte auf respiratorische Parameter (Atemgrenzwert,  maximale  Ventilation  und Ventilationsdauer).  Positive  Effekte  auf  die Selbstwirksamkeitsüberzeugung  und  Wissen fanden  sich  –  mit  Ausnahmen  –  in  weiteren Studien  zum  Spieleinsatz  bei  der  AsthmaTherapie    (3).
Die  Studien  zur  Bewegungstherapie umfassten  zum  Teil  Einzelfall-  oder  Klein-NStudien (4, 10) oder anekdotische Berichte (17), so dass auch in diesem  Bereich  die  methodische  Qualität  von  „sehr  gering“  bis „hoch“ reicht.
Ein wichtiges Ergebnis der Studien ist, dass die Einbettung von therapeutischen Bewegungen in bedeutungsvolle Kontexte – im    Gegensatz    zu    rein    mechanischen    Bewegungen    –    bessere    Therapieerfolge hervorrufen kann (8, 20).
Insgesamt  zeigen sich in der wissenschaftlichen Erforschung digitaler Spiele im Therapieeinsatz die oben genanntenforschungsmethodischen Defizite in akzentuierter Form. Es gibt kaum  wissenschaftliche  Studien,  die  die  Effekte  unter  kontrollierten  Bedingungen  mit  ausreichenden  Stichprobenumfängen, mit Prä- und Posttest und einer oder mehreren Kontrollgruppen untersuchen.  Überzeugende  Nachweise  der  therapeutischen Langzeitwirksamkeit digitaler Spiele stehen damit noch weitgehend aus.

WIE WIRKEN SERIOUS GAMES?

Die in den beiden vorhergehenden Abschnitten diskutierten Studien thematisieren eine Vielzahl von unterschiedlichen Indikatorvariablen: physiologische bzw. klinische, psychische und soziale Parameter.  Dieses  Vorgehen  entspricht  dem  oben  dargestellten dreidimensionalen  Gesundheitskonzept.  Entwicklung  und  Einsatz  digitaler  Spiele  im  präventiven  wie  rehabilitativen  Kontext orientieren sich mittlerweile überwiegend an differenzierten Wirkungsmodellen,  die  mehrere  Wirkungsdimensionen  integrieren (6, 23, 24). Diese Modelle stellen weniger – sieht man einmal von den dargestellten Bewegungsinterventionsstudien ab, die auf direkte physiologische und sensomotorische Effekte abzielen – auf eine direkte Wirkung digitaler Spiele auf physische Variablen ab. Vielmehr postulieren die verschiedenen Modelle primär eine indirekte Wirkung digitaler Spiele, die über veränderte psychische und  soziale  Variablen  (Wissen,  Einstellung,  Selbstwirksamkeit, Kommunikation,  Unterstützung  etc.)  das  Verhalten  des  Menschen  beeinflussen.  Das  veränderte  Verhalten  (z.B.  Bewegungsaktivitäten    oder    Compliance    in    der    Therapie)    soll    sich    –    quasi    alsSekundäreffekt – auf manifeste physiologische und klinische Parameter auswirken. Überspitzt formuliert könnte man von einer Kausalkette  „digitales  Spiel  →  (sozial-)psychologische  Effekte  → Verhaltenseffekte → physiologische/klinische Effekte“ sprechen.
Zur  Erklärung  der  „psychologischen  und  sozialen  Primäreffekte“ werden die lerntheoretischen Hauptströmungen (Behaviorismus, Kognitivismus und Konstruktivismus) ebenso berücksichtigt wie spezifische Modelle, z.B. die soziale Lerntheorie von Bandura und    die    Theorie    geplanten    Verhaltens    von    Ajzen,    welche    sich    impräventiven Kontext zur Erklärung von Verhaltensänderungen bereits vielfach bewährt haben (11, 16). Als „Vereinigungsmenge“ der verschiedenen  Modelle  werden  die  folgenden  Wirkungsebenen bzw. Komponenten unterschieden (s. Abb. 2):

  • Intentionen,    d.h.    die    Absicht,    das    eigene    Verhalten    zuändern
  • Subjektive    Normen    (mit    schwacher    Wirkung    auf    Intentionen)
  • Einstellungen    (mit    sehr    enger    Beziehung    zu    Intentionen)
  • Wahrgenommene    Kontrolle    (mit    enger    Beziehung    zuIntentionen und Verhalten) bzw. Selbstwirksamkeit

Zur  Festigung  dieser  Komponenten,  die  wiederum  die  Stärke von  Motivation  und  Volition  moderieren  (18),  werden  verschiedene  psychosoziale  Verstärkungs-  und  Belohnungsmechanismen diskutiert.
Im Kontext der Erforschung digitaler Spiele wurden weitere Komponenten einbezogen (6, 24):

  • Selbsteinschätzung
  • Spielerlebnis    (Spaß    etc.)
  • Soziale    Unterstützung    und    Kommunikation
  • Wissen


Damit  werden  sozialpsychologische  Konstrukte  berücksichtigt, die auch in der Bindungsforschung im Kontext gesundheitsorientierten Verhaltens eine wichtige Rolle spielen (38). Insgesamt sind die Modelle sehr abstrakt; dies hat einerseits den Vorteil, dass sie auf  viele  verschiedene  Präventions-  und  Rehabilitationsgebiete anwendbar  sind.  Andererseits  finden  die  spezifischen  Erfordernisse  der  jeweiligen  Präventions-  und  Rehabilitationsschwerpunkte kaum in den Wirkungsmodellen Berücksichtigung. Auch werden  neuro-  und  psychoimmunologische  Wechselwirkungen vernachlässigt,    welche    zumindest    bei    der    Prävention    und    Therapie  von  Erkrankungen  mit  Beteiligung  des  Immunsystems  eine wichtige Rolle spielen dürften.

FAZIT

In der Gesamtsicht ist damit zu konstatieren, dass digitale Spiele – im Sinne von Serious Games – prinzipiell ein großes Potenzial für die  sportmedizinische  Prävention  und  Rehabilitation  haben.  Die Spielgenres  umfassen  primär  Action-,  Adventure-,  Shooter-  und Rollenspiele sowie Sport- und Bewegungsspiele.
Allerdings  steckt  die  wissenschaftliche  Forschung  zur  Wirkung digitaler Spiele in Prävention und Rehabilitation – trotz viel versprechender erster Befunde – noch in den Anfängen. Überzeugende Befunde zur nachhaltigen Langzeitwirkung digitaler Spiele in  Prävention  und  Rehabilitation  können  (noch)  selten  vorgelegt werden. Hochwertige randomisierte experimentelle Längsschnittstudien mit Prä-Post-Tests und strenger Bedingungskontrolle stehen in vielen Bereichen noch aus. Insbesondere sind Fragen offen, die sich auf die Gestaltung, die Wirkungsebenen und ihre Interaktionen,  Dosis-Wirkungs-Beziehung  und  geeignete  Einsatzsettings beziehen.
Die  Wirkungsmodelle  sind  relativ  abstrakt  und  postulieren primär indirekte Kausalitäten, die über sozialpsychologische Variablen vermittelt werden; direkte Effekte werden kaum modelliert. Zukünftige  Forschungs-  und  Entwicklungsaktivitäten  sollten  an diesen theoretischen und empirischen Desideraten ansetzen.

Angaben zu finanziellen Interessen und Beziehungen, wie Patente, Honorare oder Unterstützung durch Firmen: Keine.

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Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. rer. medic. Josef Wiemeyer
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