Sportmedizinische Diagnostik in der Onkologie
Sports Medical Assessment in Oncology
ZUSAMMENFASSUNG
Der sportmedizinischen Diagnostik kommt im Kontext einer stetig wachsenden Bedeutung von Bewegungstraining und körperlicher Aktivität in den unterschiedlichen Phasen einer Krebserkrankung eine zentrale Rolle zu. Sie nutzt neben klassischen Verfahren der Leistungs- und Funktionsdiagnostik, einfachen motorischen Tests und Fragebögen auch Instrumente anderer klinischer Disziplinen. Art und Umfang der Untersuchungen sollten die Diversität von Entitäten und Tumorbehandlungen berücksichtigen und unnötige Belastungen für Patienten vermeiden helfen. In Abhängigkeit der Fragestellung und verfügbarer Ressourcen erstrecken sie sich auf Beurteilungen von Fatigue, Lebensqualität, Bewegungsverhalten, Kraft, posturaler Kontrolle, Gang- und Alltagsfunktion sowie kardiopulmonaler Leistungsfähigkeit. Neben Regeln zu fakultativen und obligaten sportmedizinischen Voruntersuchungen müssen dabei in enger Abstimmung mit dem behandelnden Arzt Kontraindikationen und tumorabhängige Risiken auf Basis der klinischen onkologischen oder hämatologischen Diagnostik einbezogen werden.Die Ergebnisse der sportmedizinischen Diagnostik sind Grundlage individueller Trainings- und Belastungssteuerung und tragen wesentlich zum Erfolg körperlichen Trainings sowie zur Motivierung der Patienten bei. Sie sind gleichzeitig Voraussetzung und Zielgröße evidenzbasierter Forschung und klinischer Qualitätssicherung. Patienten im stabilen Zustand wird empfohlen, während und nach der Therapie 3- 6 mal wöchentlich 20- 60 Minuten mit moderater bis hoher Intensität körperlich aktiv zu sein, und zusätzlich 2- 3 mal wöchentlich muskelkräftigende Übungen durchzuführen. Bei eingeschränkter Belastbarkeit sollten Patienten körperliche Inaktivität vermeiden und 3- 6 mal wöchentlich 15- 30 Minuten leichte Aktivität über den Tag akkumulieren.
ABSTRACT
Physical activity and exercise have become increasingly relevant in all stages of cancer therapy. In this field, sports medical assessments of performance and function have gained a pivotal role, employing conventional physiological measures of human performance and function, as well as measures originating from related clinical disciplines. When choosing individual measures, the large variety of tumor entities and treatments should be considered and unnecessary burden to the patient avoided. Depending on the clinical focus and the technical resources available, the sports medical assessment may include measures of fatigue, quality of life, physical activity behavior, strength, balance, gait, activities of daily living and cardiopulmonary performance. Guidelines for sports medical pre-participation evaluations, tumor-specific contraindications and risks, the results of oncological and hematological assessments as well as the advice of the treating oncologist all need to be taken into account. Individual exercise prescriptions based on the results of these assessments may significantly contribute to enhance patients’ motivation and clinical outcomes. Assessment outcomes are also used to build scientific evidence base and support clinical quality management. It is recommended that cancer patients and survivors be physically active 20-60 minutes per day, 3-6 days per week at moderate to high intensity, depending on their fitness. Additionally, they are advised to perform 2-3 sessions of strength training per week. Patients who feel particularly tired should try to avoid physical inactivity and engage in 15-30 minutes of light activity per day, 3-6 days per week.
EINLEITUNG
Körperlichem Training werden während und nach der Tumortherapie wichtige Effekte auf psychosoziale und körperliche Parameter, die Compliance mit dem Behandlungsregime, Beeinträchtigungen durch Krankheitssymptome, Nebenwirkungen wie Übelkeit und Fatigue, sowie Prognose und Rezidivrate für bestimmte Entitäten zugeschrieben (2, 6). Die zunehmende Relevanz komplementärer Bewegungstherapie spiegelt sich in klinischen Behandlungsleitlinien wider (u.a. S3-Leitlinie Brustkrebs der Deutschen Krebsgesellschaft; Clinical Practice Guideline Fatigue des National Comprehensive Cancer Network) und wird von sportwissenschaftlichen und sportmedizinischen Fachgesellschaften in Empfehlungen aufgegriffen (2, 6).Körperliche Funktionen und Belastbarkeit onkologischer Patienten sind reduziert und variieren intra- und interindividuell erheblich. Gleiches gilt für die Effekte von Bewegungsinterventionen (3, 5). In enger Abstimmung mit dem behandelnden Onkologen ermittelt die sportärztliche Diagnostik unter Berücksichtigung dieser besonderen Voraussetzungen die individuelle Leistungsfähigkeit, leitet Empfehlungen zur Trainingssteuerung ab und hilft im Bedarfsfall, Bedenken hinsichtlich einer Überforderung auszuräumen (2, 3, 5). Sie motiviert Patienten, macht Trainingserfolge sichtbar und erhöht das Selbstvertrauen (3, 5). Die sportmedizinische Diagnostik trägt in Dosis-Wirkungs- Untersuchungen dazu bei, die optimale Art, Intensität, Dauer und Frequenz körperlichen Trainings in der onkologischen Therapie zu ermitteln (3, 4, 5).
Indikationen Kontraindikationen, klinischer Status
Nach Freigabe durch den behandelnden Onkologen ist eine sportmedizinische Diagnostik bei onkologischen Patienten zur Trainingsverordnung und -steuerung während oder nach der Tumorbehandlung indiziert (2, 3, 5, 6). De Lucia et al. empfehlen, Funktions- und Leistungsentwicklung zur Verlaufsbeurteilung in regelmäßigen Intervallen (2 Monaten) zu überprüfen (5). Zu den Zielen eines sportmedizinisch gesteuerten Trainings gehören neben der Erhaltung und Verbesserung von körperlichen Funktionen und Leistungsfähigkeit, Lebensqualität, Körperzusammensetzung und Körperbild auch die Reduktion von Nebenwirkungen, die Stärkung psychophysischer Ressourcen im Umgang mit der Erkrankung und ihrer schwierigen Behandlung, sowie bei einigen Entitäten die Senkung der Rezidivgefahr. Das Bronchialkarzinom ausgenommen, hat die sportmedizinische Diagnostik keinen unmittelbaren Einfluss auf die Tumortherapie.Aufbauend auf der onkologischen oder hämatologischen klinischen Diagnostik müssen in Abhängigkeit der gewählten diagnostischen Tests neben den allgemeinen Kontraindikationen für Belastungsuntersuchungen (DGSP-Leitlinien) zusätzlich generelle und therapiebedingte Kontraindikationen beachtet, tumorabhängige Risiken mit dem behandelnden Arzt erörtert und gegebenenfalls zusätzliche Untersuchungen durchgeführt werden (1, 2, 6) (Tab. 1). Ansonsten gelten Regeln zu fakultativen und obligaten sportmedizinischen Voruntersuchungen (internistischer und orthopädischer Status gemäß DGSP-Leitlinien) für Gesunde und chronisch Erkrankte analog bei onkologischen Patienten (3, 5).
Fatigue und Lebensqualität
Eine standardisierte Erfassung von Fatigue und Lebensqualität bieten das Multidimensional Fatigue Inventory (MFI, 20 Items) und die Fatigue Quality List (FQL, 25 Items) sowie der European Organisation for Research and Treatment of Cancer Quality of Life Questionnaire C30 (EORTC QLQ- C30, 30 Items) inklusive optional verwendbarer entitätsspezifischer Module. Tagesaktuelle Quantifizierungen der Fatigue mittels VAS-Skala (100mm) helfen bei der Entscheidung, ob ein Test besser verschoben werden sollte. Bei leichter oder moderater Fatigue können Belastungsuntersuchungen gemäß Toleranz durchgeführt werden (6).
Bewegungsverhalten
Objektive Registrierungen körperlicher Aktivität, beispielsweise durch Akzelerometrie, oder kostengünstigere, aber weniger valide fragebogengestützte Erhebungen (bspw. International Physical Activity Questionnaire, IPAQ) komplettieren den klinischen Status und beeinflussen die Wahl von Belastungsprotokollen (3).
Orthopädisch-biomechanische Diagnostik
Muskelkraft, Gang, Mobilität und posturale Kontrolle haben eine erhebliche Bedeutung für die insbesondere bei älteren Krebspatienten eingeschränkte alltägliche Funktionsfähigkeit und Fortbewegungssicherheit. Die Handdynamometrie korreliert mit der Kraft der Rumpf- und Extremitätenmuskulatur (r =0,51- 0,67) und besitzt prädiktiven Wert für die Gesamt- und Krebsmortalität Älterer. Portable Kraftaufnehmer (z.B. Dehnungsmessstreifen) erlauben eine ökonomische Erfassung der isometrischen Maximalkraft. Die Isokinetik gestattet darüber hinaus eine umfassende Bewertung konzentrisch- und exzentrisch-dynamischer Muskelarbeit. Bestimmungen der bei einer vorgegebenen konzentrischen Bewegung maximal realisierbaren Last (Ein-Wiederholungsmaximum) erlauben, selbst bei Brustkrebspatientinnen mit Lymphödem, die individuelle Trainingsintensität abzuleiten (6).Ein einfaches motorisches Testverfahren zur Kraftdiagnostik der unteren Extremitäten älterer Patienten ist der Chair Rising Test (3). Der 30-s chair-stand test weist hohe Zusammenhänge mit dem Einer-Wiederholungsmaximum an der Beinpresse auf (r =0,77).
Eine hinreichend reliable Beurteilung der posturalen Kontrolle kann durch die Messung von Auslenkungen des Körperschwerpunktes bzw. des Druckmittelpunktes unter Verwendung von Kraftmessplatten erfolgen. Kraftmessplatten kommen ebenfalls im Rahmen ganganalytischer Registrierungen sturzassoziierter Gangparameter (Gehgeschwindigkeit, Schrittlänge, Schrittbreite, Doppelstützphase (in % des Gangzyklus) zum Einsatz. Etablierte nichtapparative Testverfahren zur Beurteilung von Mobilität, Gleichgewichtsfähigkeit und Fortbewegungssicherheit sind POMA (Performance Oriented Mobility Assessment), timed up and go test, Berg-Balance-Scale und Romberg Test.
Kardiopulmonale Diagnostik
Die höchste beobachtete Sauerstoffaufnahme (VO2 peak) wird unter standardisierten Bedingungen atemgasanalytisch bei zusätzlicher Registrierung von Herzfrequenz, EKG, arterieller Sauerstoffsättigung, Blutdruck und subjektivem Beanspruchungsgrad unter Verwendung rampenförmiger Belastungsprotokolle ermittelt (3, 5). Im Gruppenmittel erreichen 40- 70 jährige Krebspatienten zwischen 18 und 31ml/kg/min (40- 90% der Norm), etwa einer maximalen Leistung von 1,5- 3,0m/s auf dem Laufband oder 75- 175 Watt auf dem Fahrradergometer entsprechend. Im Vergleich zu Laufbändern weisen Fahrradergometer bei peripherer Neuropathie oder bei Vertigo Vorteile auf, begünstigen aber bei kachektischen Patienten eine vorzeitige lokale Ermüdung der Muskulatur und somit eine Unterschätzung der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit um 5- 10% (3).Ventilatorische Schwellen, in Studien häufig als vom Grad der Ausbelastung unabhängige und sensible Leistungsindikatoren herangezogen, können prinzipiell auch zur Trainingssteuerung genutzt werden (3), wurden aber anders als laktatbasierte Methoden noch nicht zu diesem Zweck bei onkologischen Patienten eingesetzt. Die Laktat-Leistungs-Beziehung weist bei Tumorerkrankten meist einen kurvilinearen Verlauf bei reduziertem maximalem Laktat auf. In publizierten Studien und eigenen, unveröffentlichten Untersuchungen konnte durch 12 Wochen Training (2 bis 3 Einheiten à 30- 60min/Woche), vorwiegend bei 80- 100% der Leistung an der individuellen anaeroben Schwelle ( freies Freiburger Modell, + 1mmol/L), die VO2 peak im Mittel um 11%, bzw. 10% gesteigert werden.
Ressourcenschonender und laborunabhängig, aber mit reduzierter Aussagekraft und Sensitivität, kann die funktionelle Kapazität insbesondere bei gering belastbaren Patienten basierend auf Gehtests eingeschätzt werden. Bei leistungsstarken Patienten ist ein Deckeneffekt zu beobachten (3).
Nur 15% von bislang 100 publizierten Studien berichten, ob Nebenwirkungen bei der kardiopulmonalen Diagnostik auftraten (3). Offen ist, inwieweit bei Patienten mit neoplastischen Erkrankungen tumor- und behandlungsbedingt lebensbedrohliche Komplikationen häufiger auftreten als bei Gesunden (2- 5x/100.000 Tests) (3).
Trainingsempfehlungen
Patienten im stabilen Zustand sollten sich während und nach der Therapie 3- 6 mal wöchentlich 20- 60 Minuten mit moderater Intensität (40- 60% der Sauerstoffaufnahmereserve, VO2R, oder Herzfrequenzreserve, HRR), bei gutem Trainingszustand mit hoher Intensität (60- 80% VO2R/HRR) bewegen und 2- 3 mal wöchentlich (mind. 48h Pause) muskelkräftigende Übungen durchführen (1, 2, 5, 6). Individuelle Präferenzen sollten bei der Wahl des Bewegungsangebotes und dessen Organisationsform Berücksichtigung finden. Tumor- oder behandlungsspezifisch können bestimmte Sportarten kontraindiziert sein und erfordern zumindest Rücksprache mit dem behandelnden Onkologen, bspw. Schwimmen bei Kolonkarzinom und schlechtem Immunstatus, Kontaktsportarten und intensives Krafttraining bei Knochentumoren und Hormontherapie oder Fahrradfahren bei Schwindel (1, 2, 5, 6) (vgl. Tab. 1). In Phasen deutlich eingeschränkter Belastbarkeit sollten Patienten körperliche Inaktivität vermeiden und nach Möglichkeit 3- 6 mal wöchentlich 15- 30 Minuten leichte Aktivität gemäß Toleranz über den Tag akkumulieren, beispielsweise durch Spaziergänge mit ausreichenden Pausen (bspw. 5x3 Minuten) und leichte Kräftigungsübungen (1, 2, 5, 6).
Fazit und Ausblick
Die auf enger interdisziplinärer Zusammenarbeit basierende sportmedizinische Diagnostik in der Onkologie dient der individuellen Belastungssteuerung und wird zur Qualitätssicherung von Bewegungstherapie herangezogen. In Phasen intensiver Tumorbehandlung stellt eine Verzögerung der Leistungsreduktion häufig schon einen wichtigen Therapieerfolg dar. Im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen eingesetzt, ermöglicht die sportmedizinische Diagnostik die Erweiterung unserer Kenntnisse über physiologische Effekte der Tumortherapie durch körperliche Aktivität.Art und Umfang der Untersuchungen müssen die Diversität von Entitäten und Tumorbehandlungen berücksichtigen und unnötige Belastungen für Patienten vermeiden. Bei Patienten, die ausschließlich mit gymnastischen Übungen, leichtem Walking oder leichtem Kräftigungstraining beginnen wollen, sieht das ACSM keinen unmittelbaren Bedarf für eine erweiterte Diagnostik (6).
Die bisherige Forschung konzentriert sich auf Entitäten mit hoher Inzidenz (6). Der Nutzwert und die Übertragbarkeit wissenschaftlicher Untersuchungen würde durch die Auswahl repräsentativer Stichproben und die Dokumentation adverser Ereignisse verbessert (3, 6).
Angaben zu finanziellen Interessen und Beziehungen, wie Patente, Honorare oder Unterstützung durch Firmen: Keine.
LITERATUR
- Körperliche Aktivität bei Patienten mit neoplastischen Erkrankungen. Dtsch Z Sportmed 55 (2004) 106- 107.
- Australian Association for Exercise and Sport Science position stand: optimising cancer outcomes through exercise. J Sci Med Sport 12 (2009) 428- 434.
- Cardiorespiratory exercise testing in clinical oncology research: systematic review and practice recommendations. Lancet Oncol 9 (2008) 757- 765.
- Design of the Resistance and Endurance exercise After ChemoTherapy (REACT) study: a randomized controlled trial to evaluate the effectiveness and cost-effectiveness of exercise interventions after chemotherapy on physical fitness and fatigue. BMC Cancer 10 (2010) 658.
- Cancer-related fatigue: can exercise physiology assist oncologists? Lancet Oncol 4 (2003) 616- 625.
- American College of Sports Medicine: American College of Sports Medicine roundtable on exercise guidelines for cancer survivors. Med Sci Sports Exerc 42 (2010) 1409- 1426.
Prof. Dr. Winfried Banzer
Goethe-Universität
Institut für Sportwissenschaften
Abteilung Sportmedizin
Ginnheimer Landstr. 39
60487 Frankfurt/Main
E-Mail: winfried.banzer@sport.uni-frankfurt.de