Menschen mit Handicap
EDITORIAL

Menschen mit Handicap – die vergessenen Sportler?

The Disabled Athlete

Die Paralympischen Spiele in London haben Sportler mit Handicap wieder kurzfristig ins Rampenlicht gerückt. Hier kämpften insgesamt über 4200 Athleten in 20 Sportarten um die Medaillen. Der deutsche Kader konnte 18 Gold-, 26 Silber- und 22 Bronzemedaillen ergattern und als Achter in der Nationenwertung nach Hause zurückkehren. Der deutsche paralympische Kader stellte mit 150 Athleten eine der stärksten Mannschaften in London. Trotz dieser beeindruckenden Ergebnisse muss erneut befürchtet werden, dass die Sportler bis zu den Paralympics 2016 wieder weitestgehend aus der Öffentlichkeit verschwinden. Der Beschluss zur UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Integration und Inklusion wird erst mühsam Veränderungen herbeiführen können. Nach dem Prinzip „Sport für alle“ ist das Ziel einer inklusiven Gesellschaft, aktive behinderte Menschen in unsere Vereine zu integrieren. Somit wird auf die Vereine sowie auf die Vereins- und Mannschaftsärzte ein neues Zeitalter zukommen.
Der Deutsche Behindertensportverband (DBS – National Paralympic Committee Germany) weist mit Stand 01.01.2012 618621 Mitglieder in insgesamt 5818 Vereinen/ Behindertensportgemeinschaften aus. Ein bemerkenswerter Zugewinn nachdem im Jahr 1981 lediglich 105703 Mitglieder im DBS verzeichnet worden sind (2001; 334171). Somit konnte im Jahr 2011 mit einem Gesamtzuwachs von 43734 neuen Mitgliedern ein Plus von über 7% festgestellt werden. In der neuen DBS-Bestandserhebung werden erwartungsgemäß hauptsächlich ältere Sportler (ab 61 Jahren, insgesamt 25514) unter den Neuzugängen gezählt. Dies spiegelt die allgemein bekannte Entwicklung in unserer Gesellschaft wieder. In den jüngeren Altersgruppierungen wird die Entwicklung als „noch weiter ausbaufähig“ eingestuft. Nordrhein-Westfalen führt als stärkster Landesverband mit über 1/3 aller Mitglieder die Rangliste an. Der Anteil an weiblichen Mitgliedern steigt in der Gesamtstatistik stetig und macht inzwischen 55,7% der Mitglieder aus. Erfreulicherweise ist ein Aufwärtstrend in der Gesamtmitgliederzahl im Bereich Kinder und Jugendlichen zu verzeichnen. Insgesamt 55.949 Kinder und Jugendliche bis zum 21. Lebensjahr wurden erfasst.
Als „Leistungsnachweis“ dient im Bereich des Deutschen Olympischen Sport Bund (DOSB) das Sportabzeichen, dass 2011 insgesamt 891706 mal vergeben wurde. Dies entspricht einer Vergabe an 1,09% der Bundesbürger insgesamt. 2011 wurde das Sportabzeichen für Menschen mit Handicap insgesamt 7158 mal beurkundet.
Die Inklusion von Menschen mit Behinderung in den Breiten- als auch im Leistungssport wird zwangsläufig zu Veränderungen im Versorgungsspektrum der Mannschafts- und Vereinsärzte führen, denn gerade Menschen mit geistigen Behinderungen stellen einen große Herausforderung dar. Damit die Sportler adäquat betreut werden können, müssen sich die Fachgesellschaften und die Veranstalter von sportmedizinischen Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen diesem Thema annehmen.
Bereits auf dem 113. Deutschen Ärztetag in Dresden wurde die konsequente Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen gefordert. Eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung darf somit auch von den Sportmedizinern in Zukunft erwartet werden. Ziel muss eine Mitbestimmung, Gleichberechtigung und Teilhabe von Menschen mit Handicap am gesellschaftlichen Leben und somit auch am Sport sein. Dies ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance für die Verbände, Sportvereine und die Sportmediziner.
Im Leistungssport besteht für Menschen mit Behinderungen neben der sportspezifischen Anforderung an Haltungs- und Bewegungsapparat zusätzlich die Gefahr, dass behinderungsbedingte Überlastungsschäden auftreten können. Dies gilt umso mehr, da ebenso wie bei anderen Athleten in den letzten Jahren eine Leistungsexplosion mit entsprechender Erhöhung der Trainingsumfänge und Wettkämpfe festzustellen ist (1). Generell wird ein ähnliches Überlastungs- bzw. Verletzungsrisiko in dieser Gruppe im Vergleich zu nichtbehinderten Leistungssportlern verzeichnet (1). Überlagert wird dies durch die Anpassung der Sportart an die jeweilige Behinderung. Zusätzlich müssen behinderungsbedingte Probleme berücksichtigt werden, die die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen können.
Sportunfälle im Rahmen der Paralympics stellten in der Vergangenheit erfreulicherweise lediglich ca. 10% der sportmedizinischen Versorgung dar (6). Zu erwähnen bleibt, dass „keine Fälle dokumentiert wurden, bei denen es direkt durch den Sport zu einer dauerhaften Verschlimmerung der Behinderung gekommen ist“ (6). Für die betreuende Ärzte und Physiotherapeuten kommen bei diesen Athleten zu den sportspezifischen Verletzungen noch die behinderungsspezifischen Verletzungsmuster hinzu. Da gerade im Behindertensport lange Verletzungsdauern mit signifikanten Trainingsausfällen zu verzeichnen sind, ist hier ein wesentliches Augenmerk auf die Prävention zu legen (1). Als spezifische Probleme zu nennen sind vor allem dekubitale Geschwüre und Harnwegsinfektionen.

Deshalb trennt Zimmer die sportspezifischen Probleme von den behinderungsspezifischen Risiken (7, 8). Diese unterscheiden sich nicht von den nichtbehindertensportspezifischen Problemen, insbesondere wenn keine Veränderungen bei der Ausführung der Sportart zu verzeichnen sind. Entsprechende behindertengerechte Anpassungen des Bewegungsablaufes führen dagegen zu gravierenden Veränderungen dieser Parameter, so dass eine eigenständige Sportart mit eigenständigem Risikoprofil entsteht (7, 8).
Trotz der spannenden Entwicklungen der letzten Jahrzehnte bestehen heute noch große Wissensdefizite bezüglich des Sportes von und mit behinderten Menschen. Im Bereich des Behindertensportes ist es Aufgabe der Sportmediziner, nicht nur Erkrankungen und Überlastungsschäden zu therapieren, sondern auch trainingsrelevante Daten zu gewinnen, um eine Optimierung der Leistungsfähigkeit und somit Verbesserung der Wettkampfresultate zu erzielen (3). Hier muss der durchgeführten Sportart sowie der Art und Ausprägung der Behinderung Rechnung getragen werden.
Gemäß dem Projektmotto des Behindertensportverbandes Niedersachsen gilt es ebenso für uns Mediziner, Berührungsängste abzubauen und „Von Behindertensportlern lernen!“ (4). Dies gilt umso mehr, da präventive und rehabilitative Aspekte des Sportes hier eine noch wichtigere Rolle als für die Durchschnittsbevölkerung spielen. Die sportmedizinischen Fachgesellschaften müssen sich der Thematik „Inklusion“ stellen und aktiv mit gestalten.

LITERATUR

  1. Aust A, Peters M, Brauns H, Marschner J, Hirschmüller A, Mennen J, Orthmann A, Zimmer M, Birnesser H, Schmid A Verletzungsstatistik bei Hochleistungssportlern mit einer Behinderung im Laufe der einjährigen Vorbereitungsphase auf die Sommer-Paralympics unter Berücksichtigung der Behinderung und der Sportart. Sportorthopädie-Sporttraumatologie 23 (2007) 251 - 255.
  2. Lütkehoff D Mitgliederbestandserhebung für das Jahr 2011 des Deutschen Behindertensportverbandes e.V.. Pressemitteilung (2012) 1-9.
  3. Schmid A, Huber G, Hirschmüller A, Marschner J, Zimmer M, Berg A Leistungsphysiologische Parameter und Kenngrößen der muskulären und metabolischen Beanspruchung bei querschnittsgelähmten Sportlern mit unterschiedlichen Lähmungshöhen. Sportorthopädie-Sporttraumatologie 23 (2007) 244 - 250.
  4. Werner H, Eichler J Berührungsängste? Fehlanzeige! Neuer Start 2 (2012) 24 - 25.
  5. Zimmer M Belastungen für die Bewegungsorgane durch Sport für Menschen mit Behinderung. Sportorthopädie-Sporttraumatologie 23 (2007) 256 - 258.
  6. Zimmer M Leitungssport für Menschen mit Behinderungen. GOTS-Newsletter 8 (2008) 1 - 2.