Onkologie und Bewegung
EDITORIAL

Onkologie und Bewegung

Oncology and Physical Activity

<strong>Prof. Dr. Dr. Winfried E. Banzer</strong><br>Leiter der Abteilung Sportmedizin<br>Goethe-Universität Frankfurt am Main

Onkologische Patienten sind von vielfältigen und teilweise gravierenden therapieassoziierten Nebenwirkungen betroffen. Kardio- und Neurotoxizitäten sowie Fatigue, Übelkeit und Schmerzen führen u.a. zu Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, Lebensqualität und des Wohlbefindens und können z.B. Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems oder des Bewegungsapparates induzieren. Bewegung und Training gewinnen in diesem Kontext in der Prävention, zur Reduktion der Krankheitslast, dem Management von Therapienebenwirkungen sowie zur Optimierung der Lebensqualität zunehmend an Bedeutung. Hier hat sich in den letzten Jahren für die Sportmedizin in Form der Bewegungs- und Sporttherapie ein breites Betätigungsfeld entwickelt.
Auch wenn die Zahl der in Deutschland verstorbenen Krebspatienten in den vergangenen Jahren nur unwesentlich angestiegen ist bzw. nach Altersstandardisierung sogar leicht sinkt, versterben jährlich immer noch ca. 215. 000 Menschen an Krebserkrankungen. Damit sind bösartige Neubildungen hinter Herzkreislauferkrankungen nach wie vor Todesursache Nummer zwei in Deutschland. Mit 477. 300 Neuerkrankungen im Jahr 2010 verzeichnete Deutschland einen Anstieg der Inzidenzen um ca. 18% innerhalb der letzten Dekade. Aktuell leben in Deutschland ca. 1,45 Millionen Tumorpatienten, deren Krankheit vor höchstens fünf Jahren diagnostiziert wurde (1). Epidemiologen erwarten eine Zunahme der Neuerkrankungsrate weltweit bis zum Jahr 2030 um weitere 70%. Fortschritte der Diagnostik und erweiterte Therapieoptionen verbessern die Überlebenschancen und resultieren in einer kontinuierlich wachsenden Zahl an Krebspatienten und Langzeitüberlebenden.
Risikoabschätzungen der Arbeitsgruppe um Friedenreich lassen vermuten, dass 9-19% der häufigsten Tumorerkrankungen in Europa mit einem Mangel an hinreichender Bewegung zusammenhängen (2). Die aktuelle epidemiologische Studienlage belegt: Das Risiko für einige häufige Krebsarten lässt sich senken. Ein aktiver Lebensstil mit bspw. einer Stunde schnellem Gehen oder 30 Minuten moderatem Joggen täglich kann verglichen zu sportlich Inaktiven das Risiko an Darm- und Gebärmutterschleimhautkrebs sowie an dem nach den Wechseljahren auftretenden Brustkrebs zu erkranken um ca. 20-30% reduzieren (3, 4).
Während noch vor etwa 30 Jahren Ruhe und Schonung als Standardempfehlung für Krebspatienten propagiert wurden, sammeln sich seit den 1980er Jahren Forschungsergebnisse, die nicht nur die präventive Wirkung von Sport belegen, sondern auch verdeutlichen, dass ein strukturiertes körperliches Training während und nach der Tumortherapie unter Berücksichtigung evtl. vorhandener Einschränkungen bei vielen Patienten sicher durchführbar ist und psychosoziale sowie physische Parameter günstig beeinflussen kann (5, 6, 7, 8, 9). Insbesondere für ausdauerorientierte oder kombinierte Interventionen und häufige Tumorentitäten wie z.B. Brustkrebs liegt solide Evidenz für eine Verbesserung der kardiorespiratorischen Leistungsfähigkeit, der Muskelkraft sowie der Lebensqualität durch körperliche Aktivität vor (7, 8, 9). Auch die Fatigue-Symptomatik, die bis zu 70% aller Krebspatienten betrifft und als subjektiv gravierendste Symptomatik gilt, kann durch regelmäßige körperliche Aktivitäten signifikant reduziert werden. Neuere Ergebnisse liefern daneben Hinweise für positive Auswirkungen körperlicher Aktivität auf weitere therapiebedingte Nebenwirkungen und Spätfolgen wie z.B. Risikofaktoren für kardiovaskuläre Komorbiditäten und Immunfunktion, die Körperkomposition, die neuromuskuläre Leistungsfähigkeit sowie den psychosozialen Status (7, 8, 9). Eine erste Meta-Analyse zu den Wirkungen eines isolierten Krafttrainings beschreibt große Effekte bezüglich der Maximalkraft, eine Verbesserung der Körperkomposition und einen wenn auch geringen, aber positiven Einfluss auf die Fatigue-Symptomatik (10). Eigene Ergebnisse belegen, dass auch Palliativpatienten durch körperliches Training enorm profitieren können.
Vor diesem Hintergrund empfehlen Fachgesellschaften die Bewegungstherapie bzw. regelmäßige körperliche Aktivität als relevante supportivtherapeutische Maßnahme für onkologische Patienten in allen Therapie- und Erkrankungsphasen. Übergreifend gültige Empfehlungen zur inhaltlichen Gestaltung zu geben, ist allerdings schwierig. Aufgrund der Vielzahl an Aspekten wie z.B. Symptomenkomplex, Tumorlokalisation, Therapieform und -phase sowie möglicher weiterer Komorbiditäten ist prinzipiell eine individuelle Anpassung und sportmedizinische Untersuchung und Beratung unter Berücksichtigung von Einschränkungen und individueller Präferenzen zu empfehlen (9, 11, 12). Wenn Jemand früher wenig aktiv war, gilt es jetzt umso mehr, langsam anzufangen und Umfang und Intensität allmählich zu steigern. Patienten im stabilen Zustand wird empfohlen, während und nach der Therapie wöchentlich 150 Minuten moderate oder 75 Minuten intensive aerobe Aktivitäten mit z.B. 4-6 Einheiten à 20-60 Minuten zu akkumulieren und zusätzlich 2-3 mal wöchentlich muskelkräftigende Übungen durchzuführen (9, 11). Bei eingeschränkter Belastbarkeit sollten Patienten körperliche Inaktivität vermeiden und mit 1-3 ca. 20-minütigen Einheiten leichter bis moderater körperlicher Aktivität, mit einer langsamen Steigerung auf 4-6 Einheiten und 20-60 Minuten, beginnen (9, 11).
Trotz der überzeugenden Datenlage, wird das Potential der Bewegung noch unzureichend genutzt. Aus eigenen Untersuchungen und weiteren Studien wissen wir, dass Krebspatienten nach der Diagnose ihr Bewegungspensum reduzieren und in Relation zu den Empfehlungen häufig zu wenig aktiv sind. Wünschenswert wäre aber, dass sie gerade in dieser Phase über das Potential der körperlichen Aktivität informiert werden und spezielle Bewegungsangebote zur Verfügung stehen. Sehr hinderlich ist es daher, dass Sporttherapie aktuell größtenteils nur im Rahmen des Rehabilitationssports von den Krankenkassen als Leistung übernommen wird. Deutschlandweit existieren neben stationären Rehabilitationseinrichtungen derzeit ca. 700 ambulante Gruppenangebote für Sport in der Krebsnachsorge. Während bei bestimmten Entitäten (Brustkrebs) relativ viele Angebote vorhanden sind, fehlen vor allem für männliche Tumorpatienten und Patienten in der Therapiephase entsprechende Möglichkeiten. In eigenen Untersuchungen mussten wir feststellen, dass die bestehenden Angebote für einen Großteil der Patienten und der Ärzte nicht ausreichend bekannt waren. Ein erfolgreiches Bewegungsprogramm sowie die Motivation für und Bindung an körperliche Aktivität profitiert von der engen Zusammenarbeit zwischen Onkologen und Sportmedizinern.
Relevant sind neben der Verbesserung des Informationsstatus der Beteiligten zukünftig insbesondere Forschungsansätze zur Evaluation potenzieller Wirkmechanismen körperlicher Aktivität sowie unterschiedlicher Trainingsansätze und -inhalte wie z.B. hoher Trainingsintensitäten, um die Empfehlungen und Trainingskonzepte zu spezifizieren und die Versorgungsmöglichkeiten onkologischer Patienten zu optimieren. Herausforderungen stellen dabei u.a. die ständigen Neu- und Weiterentwicklungen der klinischen Therapien, die steigende Anzahl an Krebspatienten und Langzeitüberlebenden und die interindividuell sehr heterogenen Krankheits- und Therapieverläufe dar. Gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten ist es, dafür zu sorgen, dass Sport- und Bewegungstherapie ein unverzichtbarer Bestandteil des Managements von Krebspatienten wird.

Literatur

  1. Robert Koch Institut Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e. V. Krebs in Deutschland 2009/2010. Gesundheitsberichterstattung des Bundes. 9. Ausgabe (2013) Berlin
  2. Friedenreich CM, Neilson HK, Lynch BM: State of the epidemio - logical evidence on physical activity and cancer prevention. Eur J Cancer 46 (2010) 2593–2604. doi: 10.1016/j.ejca.2010.07.028
    doi:10.1016/j.ejca.2010.07.028
  3. Wolin KY, Tuchman H Physical activity and gastrointestinal cancer prevention. Recent Results Cancer Res 186 (2011) 73–100.
    doi:10.1007/978-3-642-04231-7_4
  4. Steindorf K, Schmidt M, Ulrich C Welche Effekte hat körperliche Bewegung auf das Krebsrisiko und auf den Krankheitsverlauf nach einer Krebsdiagnose? Bundesgesundheitsbl 55 (2012) 10–16.
    doi:10.1007/s00103-011-1385-z
  5. Schüle K Zum Stellenwert der Sport- und Bewegungstherapie bei Patientinnen mit Brust- oder Unterleibskrebs. Die Rehabilitation 22 (1983) 36–39.
  6. Dimeo F, Fetscher S, Lange W, Mertelsmann R, Keul J Effects of aerobic exercise on the physical performance and incidence of treatment-related complications after high-dose chemotherapy. Blood 90 (1997) 3390-3394.
  7. Fong DY, Ho JW, Hui BP, Lee AM, Macfarlane DJ, Leung SS, Cerin E, Chan WY, Leung IP, Lam SH, Taylor AJ, Cheng KK Physical activity for cancer survivors: meta-analysis of randomised controlled trials. BMJ 344 (2012) e70.
    doi:10.1136/bmj.e70
  8. Jones LW, Alfano CM Exercise-oncology research: past, present, and future. Acta Oncol 52 (2013) 195-215.
    doi:10.3109/0284186X.2012.742564
  9. Schmitz KH, Courneya KS, Matthews C, Demark-Wahnefried W, Galvão DA, Pinto BM, Irwin ML, Wolin KY, Segal RJ, Lucia A, Schneider CM, von Gruenigen VE, Schwartz AL; American College of Sports Medicine. Schmitz et al American College of Sports Medicine roundtable on exercise guidelines for cancer survivors. Med Sci Sports Exerc 42 (2010) 1409-1426.
    doi:10.1249/MSS.0b013e3181e0c112
  10. Strasser B, Steindorf K, Wiskemann J, Ulrich CM Impact of resistance training in cancer survivors: a meta-analysis. Med Sci Sports Exerc 45 (2013) 2080-2090.
    doi:10.1249/MSS.0b013e31829a3b63
  11. National Comprehensive Cancer Network Survivorship. NCCN Clinical Practice Guidelines in Oncology. Version 1.2013. (2013).
  12. Banzer W, Vogt L, Hübscher M, Thiel C Sportmedizinische Diagnostik in der Onkologie. Dtsch Z Sportmed 63 (2012) 20-22.