Sportwissenschaft
EDITORIAL

Die Epidemiologie körperlicher Aktivität – welche Forschungslücken gilt es zu schließen?

The Epidemiology of Physical Activity – Which Research Gaps Must Still Be Closed?

 

Die gesundheitliche Bedeutung körperlicher Aktivität (KA) ist gut bekannt, aber die Auswirkungen eines sitzenden Lebensstils sind noch nicht ausreichend abschätzbar.

Viele epidemiologische Studien belegen die positiven gesundheitlichen Effekte von sportlicher Aktivität. Aktivitäten, die sich ohne weiteres in den Alltag einbinden lassen, können das Krankheitsrisiko vermindern, wie z. B. mit dem Rad bzw. zu Fuß einzukaufen, anstatt das Auto zu nutzen oder Treppen statt Aufzüge oder Rolltreppen zu nehmen. Insbesondere für Herz-Kreislauferkrankungen ist der günstige Effekt unbestritten. Für das Risiko an Kolonkrebs zu erkranken, gilt der protektive Effekt als erwiesen, für Endometrium und postmenopausalen Brustkrebs als sehr wahrscheinlich und für prämenopausalen Brustkrebs, Prostata-, Lungen- und Pankreaskrebs als plausibel. Bewegungsmangel ist mit Adipositas assoziiert, führt zu einem ungünstigen metabolischen Profil, erhöht inflammatorische Marker und führt wahrscheinlich auch zu einem geschwächten Immunsystem. Im Kindes- und Jugendalter fördert KA den Knochenaufbau, verzögert dessen Abbau im Erwachsenenalter und verringert so das Osteoporoserisiko. KA fördert die psychische Gesundheit und die kognitiven Funktionen von Kindern und Jugendlichen, sie kann dem kognitiven Abbau im Alter vorbeugen, die Entwicklung einer Demenz hinauszögern und sogar zur Therapie von Depressionen eingesetzt werden. Ein umfassender Überblick hierzu findet sich im Themenheft „Körperliche Aktivität und Gesundheit“ (10). Im Vergleich zu Erwachsenen gibt es für Kinder noch zu wenige Daten über gesundheitliche Wirkungen von KA.
In letzter Zeit erweist sich häufiger, dass sitzendes Verhalten ein unabhängiger Risikofaktor vom Umfang der körperlichen Aktivität ist (4). Moderate bis intensive körperliche Aktivität, die sich auf 15-22,5 MET-Stunden pro Woche (Metabolisches Äquivalent) kumuliert, senkt das Sterberisiko um mehr als 35%. Aber auch Personen, die nur die Hälfte des Tages sitzend verbringen, haben ein um ca. 25% verringertes Sterberisiko im Vergleich zu Personen, die den ganzen Tag sitzen (1). Der Wirkmechanismus ist allerdings noch unklar und die Frage, ob z. B. Stehen allein schon günstiger ist als Sitzen, ist unbeantwortet.

UNZUREICHENDE STUDIENLAGE

Unser Wissen basiert primär auf Selbstangaben, aber diese überschätzen KA und sind für Studien mit Kindern bzw. zur Erfassung sitzenden Verhaltens unzureichend.
Die Grenzen unseres Wissens sind teilweise durch den Mangel an longitudinalen Studien begründet, aber auch durch Grenzen der Messmethodik, denn die meisten Studien basieren auf Selbstangaben der Studienteilnehmer/innen. Insbesondere das sporadische Aktivitätsverhalten junger Kinder lässt sich durch einen Fragebogen kaum messen, zumal wir dabei auf elterliche Angaben angewiesen sind, die nur in geringem Maß mit objektiven Messdaten übereinstimmen (12).
Die deutlichsten Zusammenhänge mit gesundheitlichen Endpunkten wurden für moderate bis intensive KA beobachtet (s. z. B. 9). Aber die mit Fragebögen erfasste Intensität und Dauer ist ungenau und verzerrungsanfällig. Zusammen mit der Überschätzung von KA durch Eigenangaben führt dies selbst bei Nutzung etablierter Instrumente wie dem IPAQ (International Physical Activity Questionnaire) tendenziell zu einer Unterschätzung gesundheitlicher Effekte (6). Die Untersuchung der quantitativen Beziehung zwischen KA, sitzenden Verhaltensweisen und Gesundheitseffekten erfordert deshalb verbesserte (objektive) Methoden wie die Akzelerometrie. Nicht nur für ein besseres Verständnis ätiologischer Zusammenhänge sind eine korrekte Quantifizierung und ein einheitlicher Bewertungsmaßstab für Intensitätsstufen erforderlich, sondern auch für eine bessere Evidenzbasierung von Empfehlungen zur Gesundheitsförderung sowie für die Beurteilung der Effektivität von Interventionen. Dabei sei darauf hingewiesen, dass die Empfehlungen von 2½ Stunden moderater bis intensiver KA pro Woche bei Erwachsenen und 60 Minuten pro Tag bei Kindern primär auf Selbstangaben basieren und daher die ihrer Begründung zugrunde gelegten Gesundheitsrisiken mit großer Unsicherheit behaftet sind (13).

SYSTEMATISCHES MONITORING FEHLT

In Europa ist Bewegungsmangel weit verbreitet und die Empfehlungen der WHO werden größtenteils nicht erreicht, es fehlt jedoch ein systematisches Monitoring für regionale Vergleiche und die Analyse zeitlicher Trends.
Nach eigenen Angaben treiben 42% der Europäer bzw. 29% der Deutschen über 15 Jahre nie Sport, in der Altersgruppe über 55 Jahre sind es sogar 70% der Männer und 71% der Frauen (5). Dieser Prozentsatz ist in den niedrigen Bildungsschichten und in den südeuropäischen Ländern am größten. Ähnlich sieht es mit Alltagsaktivitäten wie Gehen, Gartenarbeit oder Radfahren aus: Insgesamt geben 52% an, dies selten oder nie zu tun, wobei Frauen noch weniger aktiv sind als Männer. Nach eigenen Angaben verbringen 69% der Befragten 2,5 bis 8,5 Stunden täglich sitzend. Leider geben diese Daten keine klare Auskunft über den Anteil der Bevölkerung, der die WHO-Empfehlungen zur KA erfüllt. Es geben jedoch 54% bzw. 44% an, in der zurückliegenden Woche nie intensiv bzw. moderat körperlich aktiv gewesen zu sein, so dass die Mehrheit die Empfehlungen nicht erreicht haben dürfte.
Inzwischen gibt es eine Reihe von Studien mit Kindern, die sogar objektive Messdaten erhoben haben, von denen viele in der sogenannten International Children’s Accelerometry Database (ICAD) zusammengefasst werden konnten (3). Danach sinkt ab sechs Jahren die KA um 4,2% pro Lebensjahr, wobei Mädchen weniger aktiv sind als Jungen und sich höhere Aktivitätswerte im Norden als im Süden Europas zeigen. Dies wird durch die europäische IDEFICS-Studie von Kindern im Alter zwischen 2 und 10,9 Jahren bestätigt (7). Nur ein kleiner Teil erreicht die Empfehlungen von täglich 60 Minuten moderater bis intensiver KA. Dieser Anteil variiert bei Mädchen von 2% in Zypern bis 14,7% in Schweden und bei Jungen von 9,5% in Italien bis 34,1% in Belgien.
Diese vorliegenden Daten verdeutlichen einen erheblichen Bewegungsmangel bei Erwachsenen und Kindern, jedoch erlauben sie kaum systematische Untersuchungen von zeitlichen Trends oder regionalen Unterschieden von körperlicher Aktivität und sitzendem Verhalten. Vor allem bei Jugendlichen und Kindern mangelt es an systematischen Routineerhebungen. Wünschenswert wäre ein länderübergreifendes systematisches Monitoring mit einheitlicher und valider Methodik, das es bisher - mit unterschiedlicher Qualität - nur in wenigen europäischen Ländern gibt.

DETERMINANTEN VON BEWEGUNGSMANGEL

Eine wirksame Prävention zur Verringerung des Bewegungsmangels muss an den Determinanten von körperlicher Aktivität und sitzendem Lebensstil ansetzen.
Verhaltensorientierte Interventionen zur Förderung von KA, die mit vertretbarem Aufwand auf breiter Bevölkerungsebene eingesetzt werden können, haben nur geringe Erfolge gezeigt. Daher setzt sich die Erkenntnis durch, dass Interventionen an den vorgelagerten (upstream) Determinanten von Bewegungsmangel ansetzen sollten, statt in Aufklärungskampagnen und Appellen zur Verhaltensänderung stecken zu bleiben. Dieser Paradigmenwechsel hin zu einer verhältnisorientierten Prävention erfordert gesicherte Erkenntnisse, welche Determinanten veränderbar und einer Intervention zugänglich sind. Trotz zahlreicher Untersuchungen zu einzelnen biologischen, psychologischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Faktoren, die das Bewegungsverhalten beeinflussen, fehlt ein umfassendes Verständnis des Zusammenspiels und der relativen Bedeutung der verschiedenen Faktoren in einer Lebenslaufperspektive. Eine Bündelung und Systematisierung der heute vorhandenen Wissensbasis zu den Determinanten von Ernährung, KA und sitzendem Verhalten ist ein zentrales Ziel des DEDIPAC-Projektes, das von zwölf europäischen Ländern unterstützt wird (8). Bei genauerer Betrachtung ist allerdings zu konstatieren, dass sich unser gesichertes Wissen zu Einflussfaktoren für sitzendes Verhalten und körperliche Aktivität vor allem auf kaum beinflussbare Faktoren wie Alter, Geschlecht und soziale Position beschränkt. Hier benötigen wir dringend einen Erkenntnisfortschritt wie ihn z. B. die verbesserten Methoden zur Untersuchung des Einflusses der bebauten Umgebung auf das Bewegungsverhalten von Kindern und Erwachsenen liefern können (2, 11).

LITERATUR

  1. BOUCHARD C, BLAIR SN, KATZMARZYK PT. Less sitting, more physical activity, or higher fitness? Mayo Clin Proc. 2015; 90: 1533-1540.
    doi:10.1016/j.mayocp.2015.08.005
  2. BUCK C, TKACZICK T, PITSILADIS Y, DE BOURDEHAUDHUIJ I, REISCH L,AHRENS W, PIGEOT I. Objective measures of the built environment and physical activity in children: from walkability to moveability. J Urban Health. 2015; 92: 24-38.
    doi:10.1007/s11524-014-9915-2
  3. COOPER AR, GOODMAN A, PAGE AS, SHERAR LB, ESLIGER DW, VAN SLUIJS EM, ANDERSEN LB, ANDERSSEN S, CARDON G, DAVEY R, FROBERG K, HALLAL P, JANZ KF, KORDAS K, KREIMLER S, PATE RR, PUDER JJ, REILLY JJ, SALMON J, SARDINHA LB, TIMPERIO A, EKELUND U. Objectively measured physical activity and sedentary time in youth: theInternational children‘s accelerometry database (ICAD). Int J Behav Nutr Phys Act. 2015; 12: 113.
    doi:10.1186/s12966-015-0274-5
  4. DEREZENDE LF, RODRIGUES LOPES M, REY-LÓPEZ JP, MATSUDO VK, LUIZ ODO C. Sedentary behavior and health outcomes: an overview of systematic reviews. PLoS ONE. 2014; 9: e105620.
    doi:10.1371/journal.pone.0105620
  5. EUROPEAN COMMISSION. Special Eurobarometer 412 - Sport and Physical Activity. Brussels, Directorate-General for Education and Culture and Directorate-General for Communication 2014. [07. Mai 2016].
  6. GARRIGUET D, TREMBLAY S, COLLEY RC. Comparison of Physical Activity Adult Questionnaire results with accelerometer data. Health Rep. 2015; 26: 11-17.
  7. KONSTABEL K, VEIDEBAUM T, VERBESTEL V, MORENO LA, BAMMANN K, TORNARITIS M, EIBEN G, MOLNÁR D, SIANI A, SPRENGELER O, WIRSIK N, AHRENS W, PITSILADIS Y; IDEFICS CONSORTIUM. Objectively measured physical activity in European children: the IDEFICS study. Int J Obes. 2014; 38: S135-S143.
    doi:10.1038/ijo.2014.144
  8. LAKERVELD J, VAN DER PLOEG HP, KROEZE W, AHRENS W, ALLAIS O, ANDERSEN LF, CARDON G, CAPRANICA L, CHASTIN S, DONNELLY A, EKELUND U, FINGLAS P, FLECHTNER-MORS M, HEBESTREIT A, HENDRIKSEN I, KUBIAK T, LANZA M, LOYEN A, MACDONNCHA C, MAZZOCCHI M, MONSIVAIS P, MURPHY M, NÖTHLINGS U, O‘GORMAN DJ, RENNER B, ROOS G, SCHUIT AJ, SCHULZE M, STEINACKER J, STRONKS K, VOLKERT D, VAN‘T VEER P, LIEN N, DE BOURDEAUDHUIJ I, BRUG J; DEDIPAC CONSORTIUM. Towards the integration and development of a cross-European research network and infrastructure: the DEterminants of DIet and Physical ACtivity (DEDIPAC) Knowledge Hub. Int J Behav Nutr Phys Act. 2014; 11: 143.
    doi:10.1186/s12966-014-0143-7
  9. PARIKH T, STRATTON G. Influence of intensity of physical activity on adiposity and cardiorespiratory fitness in 5-18 year olds. Sports Med. 2011; 41: 477-488.
    doi:10.2165/11588750-000000000-00000
  10. PIGEOT I, FORAITA R. Faul macht krank? Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2012; 55: 1-2.
    doi:10.1007/s00103-011-1398-7
  11. SALLIS JF, CERIN E, CONWAY TL, ADAMS MA, FRANK LD, PRATT M, SALVO D, SCHIPPERIJN J, SMITH G, CAIN KL, DAVEY R, KERR J, LAI PC, MITÁŠ J, REIS R, SARMIENTO OL, SCHOFIELD G, TROELSEN J, VAN DYCK D, DE BOURDEAUDHUIJ I, OWEN N. Physical activity in relation to urban environments in 14 cities worldwide: a cross-sectional study. Lancet. 2016. [Epub ahead of print].
  12. VERBESTEL V, DE HENAUW S, BAMMANN K, BARBA G, HADJIGEORGIOU C,EIBEN G, KONSTABEL K, KOVÁCS E, PITSILADIS Y, REISCH L, SANTALIESTRA-PASÍAS AM, MAES L, DE BOURDEAUDHUIJ I; IDEFICS CONSORTIUM. Are context-specific measures of parental-reported physical activity and sedentary behaviour associated with accelerometer data in 2-9-year-old European children? Public Health Nutr. 2015; 18: 860-868.
    doi:10.1017/S136898001400086X
  13. WHO. Global recommendations on physical activity for health. Geneva: World Health Organization; 2010. [7. Mai 2016].
Prof. Dr. rer. nat. Wolfgang Ahrens
Leibniz-Institut für Präventionsforschung
und Epidemiologie - BIPS
Abteilung Epidemiologische Methoden und
Ursachenforschung
Achterstr. 30, 28359 Bremen
ahrens@bips.uni-bremen.de