Sportmedizin im Wandel
Sports Medicine in Transition
Der Titel des Editorials klingt wie Aufbruch, wie Erneuerung und Besinnung auf die Stärken der Sportmedizin. Und das ist tatsächlich notwendig, wenn die Sportmedizin auch in derZukunft auf wissenschaftlich höchstem Niveau bestehen soll.
Zu den Schattenseiten des Prozesses gehört einerseits die drohende Schließung von universitären sportmedizinischen Einrichtungen in Deutschland, aber anderseits auch die positive Entwicklung eines Ausbaus der Sportmedizin, wenn man den gesamten deutschsprachigen Raum betrachtet. So wurde vor Kurzem an der Universität Basel eine zweite sportmedizinische Professur für Präventive Sportmedizin zusätzlich zu der erst 2009 besetzten Professur für Sportmedizin geschaffen. Vergleichbares gilt für die Universität Lausanne. Um die negative Entwicklung in Deutschland umzukehren, gilt es, die Verantwortlichen an den Universitäten mit klaren Konzepten zu überzeugen, welchen Wert die Sportmedizin im Kanon der anderen Fachdisziplinen hat. Dabei fragt man sich unwillkürlich, was die eigentlichen Stärken der Sportmedizin sind. Und das sind wohl im Kern die Beurteilung von Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit des menschlichen Körpers sowie der dosierte Einsatz von Bewegung und Sport im Sinne von Prävention und Therapie von chronischen Erkrankungen sowie zum Leistungsaufbau.
Als physiologisches Modell für die Wirkweise von körperlicher Aktivität und Inaktivität bietet sich dabei in den Extremen der Elitesportler mit genetisch angelegter Leistungsstärke und maximaler Trainierbarkeit als auch der Teilnehmer von sogenannten „bed rest“ Studien an, der modellhaft die Auswirkungen chronischer Inaktivität zeigt. In diesen Grenzen, über die gesamte Altersspanne vom Kleinkind bis zum Greis, von gesund bis krank, alle Erkrankungen überspannend, bewegt sich das Fachgebiet der Sportmedizin. Die/r Sportmediziner/in ist ein Spezialist/in für körperliche Gesundheit und Bewegung, meist aus den Mutterdisziplinen der Inneren Medizin oder Orthopädie stammend, selten aus anderen Disziplinen wie der Neurologie. Er/sie sollte in der Lage sein, die Methoden zur Beurteilung von Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit mit den Teilkomponenten Ausdauer, Kraft, Koordination und Flexibilität als Handwerkszeug deutlich besser als andere ärztliche Disziplinen einzusetzen und dabei mit Sport- und Trainingswissenschaftlern, Sportpsychologen und Experten für Sporternährung eng und gleichberechtigt zusammenzuarbeiten. Denn es bedarf neben der präzisen Diagnose insbesondere eines erfolgreichen Transfers von Bewegungsempfehlungen in den Alltag des gesunden wie des kranken Menschen.
Die erfolgreiche Umsetzung von Bewegungsinterventionen ist oft jenseits der körperlichen Inaktivität scheinbar ausreichend mit den Worten „Jeder Schritt zählt“ abgedeckt. Das stimmt vermutlich in dem Sinne, dass selbst Mini-Interventionen oder Stehphasen zur Unterbrechung von sitzender Tätigkeit am Arbeitsplatz das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen senken (1). Dennoch bedeutet diese regelmäßig, auch von zahlreichen Sportmedizinern ausgesprochene Banalität, im Grunde genommen eine Abwertung der Kompetenz beim Einsatz von Bewegung und Sport in Prävention und Therapie. Ein Diabetologe würde in Analogie dazu niemals auf die Idee kommen, seinem Patienten zu seiner Insulin - Medikation zu sagen „jede Einheit zähle“?
Im Zeitalter der personalisierten Medizin und der Precision Medicine wie von dem ehemaligen US-Präsidenten Obama und dem NIH angestoßen (5), müssen ganz andere Wege in der Sportmedizin gegangen werden. Die Unterscheidung in Responder und Non-Responder ist grundsätzlich der richtige Gedanke, Bewegungsinterventionen zu individualisieren. Das sieht die forschende Sportmedizin in nahezu jeder Interventionsstudie. Leider kommen wir den Gründen für die Wirkung oder Nicht-Wirkung von Bewegung als Medikament nur unzureichend näher, weil die Fallzahlen und die individuelle Charakterisierung des Einzelnen für die benötigte Präzision nicht ausreichen. Dafür ist aber eine Weiterentwicklung der Sportmedizin in mehrerer Hinsicht unabdingbar, um nicht weiter an Bedeutung einzubüßen.
Erstens brauchen wir gut charakterisierte, populationsbasierte, große Datensätze, die die Funktion des Körpers mit den Komponenten Ausdauer, Kraft, Koordination und Flexibilität abbilden. Ich betone gerade diese Komponenten neben der Charakterisierung mittels Fragebögen, Blut- und genetischen Analysen, Bildgebung und anderen vertieften Beschreibungen der personalisierten Gesundheit, weil diese Leistungsmerkmale des Körpers, gemessen an ihrer Bedeutung für Lebensqualität, Morbidität und Langlebigkeit meist zu wenig berücksichtigt werden (3, 7). Eine Ursache ist sicher die zu schwache Stimme der Sportmedizin bei der Planung von Kohorten. Dabei ist der größte Nachteil bestehender Kohorten das Fehlen von Normalwerten bzw. von super-Normalwerten, um „wirklich gesund“ von „beginnend krank“ abgrenzen zu können. Um dieses zu erreichen, sollten sich die sportmedizinisch-forschenden und forschungsinteressierten Einrichtungen der Sportmedizin zusammentun und mit einer solchen „Kohorte der körperlichen Funktion“ ihre bedeutsame Position in der Medizin zurückerlangen und einen Beitrag zur Gesundheit der Bevölkerung leisten. An einer solchen Kohorte wird man viel besser als bisher erkennen können, welche Parameter eine gute körperliche Funktion ausmachen und darauf basierend Interventionen zielgerichteter und frühzeitiger gestalten können.
Zweitens sollte die Sportmedizin die fast grenzenlosen Chancen mobiler Sensoren zur Erfassung der körperlichen Aktivität nach Art, Umfang, Intensität, Häufigkeit und Tageszeit zusammen mit anderen Parametern wie Puls, Atmung, Temperatur sowie Lokalisation, Erkennung von baulichen und sozialen Barrieren, Luftverschmutzung und zahlreichen anderen Faktoren nutzen (4). Nahezu jeden Monat erweitern sich die Möglichkeiten durch neu entwickelte Gesundheits- und Aktivitätsmesser, die inzwischen auch subkutan implantiert zum Dauermonitoring eingesetzt werden können. Diese auch als Gadgets bezeichneten Monitore ermöglichen die Erkennung von personalisierten Risikomustern mit dem Kernelement Bewegung, die wie ein Fingerabdruck der Gesundheit einzigartig sind und hoch individualisierte Empfehlungen für einen gesünderen Lebensstil zulassen könnten. Wenn wir zusätzlich den Link zwischen laborbasierten körperlichen Funktionsdaten und mobilen Daten sowie den genannten hämodynamischen Parametern herstellen, könnte die Sportmedizin ihre Rolle in der Gesundheitsprävention und Therapie erheblich stärken. Auch hierfür werden große Fallzahlen erforderlich sein.
Drittens ist die Umsetzung von sportmedizinischen Empfehlungen durch den Betroffenen eine große Herausforderung und gleichzeitig Chance. Viel zu selten werden geeignete kommunikative Mittel verwendet, um Gesundheitsverhalten zu verbessern. Trotz erster Ansätze in Studien steckt das Patienten- und Gesunden-Coaching in den Kinderschuhen. Unsystematisch werden die „Stages of Change“ bei Verhaltensinterventionen berücksichtigt bzw. ist das Wissen dazu nur rudimentär verankert. Smartphones und virtuelle Realität könnten viel stärker zur Unterstützung von Motivation, Compliance, Adherence und Maintenance, auch auf spielerische Weise eingesetzt werden (2). Der Einsatz von elektronischen Hilfen für das „Self-Training“ in Kombination mit supervidiertem Training steht noch ganz am Anfang. Auf dem Weg hin zu einer erfolgreichen und flächendeckend umgesetzten Bewegungstherapie bedarf es an Zeit, Vermittlungskompetenz und einem großen Bewegungstherapie-Netzwerk.
Die gerade aufgezeigten Perspektiven einer personalisierten Sportmedizin bedürfen eines verantwortungsvollen Umgangs mit Personendaten. Diese Daten, die oftmals von Smartphone-Nutzern den Internetfirmen unreflektiert preisgegeben werden, sollten eigentlich nach dem Vorbild Dänemarks (6) auch oder nur in die Hände vertrauenswürdiger Institutionen gehören. Diese sollten die Daten zum Nutzen der Datengeber zur Stärkung der Gesundheit und der Lebensqualität einsetzen können. Dazu muss die digitale Verknüpfung noch sicherer und der individuelle gesundheitliche Nutzen für den Einzelnen greifbarer werden.
Die Sportmedizin könnte gemeinschaftlich in die personalisierte Medizin aufbrechen, sich auf ihre Stärken zurückbesinnen und sich dadurch erneuern. Sie könnte mit ihren klassischen leistungsdiagnostischen Methoden wie keine andere Fachrichtung die Funktion des Menschen charakterisieren und aus einer „Funktions-Kohorte“ individualisierte Empfehlungen für einen gesunden Lebensstil ableiten. Aber sie muss diesen Wandel auch wirklich wollen.
Literatur
- The sedentary office: an expertstatement on the growing case for change towards betterhealth and productivity. Br J Sports Med. 2015; 49: 1357-1362.
- Mobile Exergaming for Health-Effects of aserious game application for smartphones on physical activityand exercise adherence in type 2 diabetes mellitus-studyprotocol for a randomized controlled trial. Trials. 2017; 18: 103.
- Cardiorespiratory fitness as a quantitative predictor of all-causemortality and cardiovascular events in healthy men and women:a meta-analysis. JAMA. 2009; 301: 2024-2035.
- Wearable Sensors for RemoteHealth Monitoring. Sensors (Basel). 2017; 17: E130.
- Relevance of health literacy to precision medicine: Proceedingsof a workshop. Washington (DC): The National Academies Press,2016.
- Nationwide citizen access to their health data:analysing and comparing experiences in Denmark, Estonia andAustralia. BMC Health Serv Res. 2017; 17: 534.
- Midlifemuscle strength and human longevity up to age 100 years: a 44-year prospective study among a decedent cohort. Age (Dordr).2012; 34: 563-570.
Direktor des Departements für Sport,
Bewegung und Gesundheit
Universität Basel
St. Jakob Arena, Mittlere Allee 18
4052 Basel, Schweiz
arno.schmidt-trucksaess@unibas.ch