Sportorthopädie
EDITORIAL

Dogmen versus Evidenz in der operativen Sportmedizin – Wir müssen das Heft des Handelns wieder aktiv in die Hand nehmen

Dogmata versus Evidence in Operative Sports Medicine – We Must Actively Regain Control of Practice

"Bald werde die Zeit kommen, wo man sich nicht mehr mit allgemeinen Bemerkungen über Erfolge dieser oder jener Operation begnügen wird, sondern jeden Arzt für einen Scharlatan hält, der nicht im Stande ist, seine Erfahrungen in Zahlungen auszudrücken"

Auch wenn diese kühnen Voraussagen vom Chirurgen Professor Theodor Billroth bereits aus dem 19. Jahrhundert stammen und die abstrakte Forderung nach wissenschaftlicher Evidenz für unser tägliches Handeln heute nichts Neues ist, so erscheint es in Zeiten, in denen Schlagzeilen über „unnötige Operationen“ die Medien beherrschen, aktueller denn je. Ja, sie könnten weiter noch durch den Zusatz ergänzt werden, dass diejenigen, die keine messbaren Ergebnisse für ihr operatives Handeln vorzulegen in der Lage sind, womöglich auch mit ihren operativen Leistungen durch das Raster der Kostenträger fallen und somit die Leistungen nicht mehr entsprechend vergütet werden.
Beispielhaft und erstmalig wurde im vergangenen Jahr die Arthroskopie bei Gonarthrose aus dem Katalog der durch die gesetzlichen Krankenkassen erstatteten operativen Leistungen gestrichen (1) und es bedarf hier keiner visionären Fähigkeit, dass weitere operative Eingriffe nach ähnlichen Maßstäben in naher Zukunft bewertet und auf den gleichen Prüfstand gestellt werden.
Interessanterweise kommen hier aus verschiedenen Bereichen ganz unterschiedliche Intentionen zum Tragen, die diese Thematik besonders relevant erscheinen lassen. Hierzu gehören:
- die öffentliche, oft subjektive Wahrnehmung, die in Zeiten von Boulevard- aber auch Fachjournalismus eine kritische Haltung zur Operation und deren Notwendigkeit entwickelt hat,
- die Sicht der Kostenerstatter, die in einer operativen Leistung zunächst nur eine kostenintensive Behandlung sehen, die möglicherweise nicht dem Wirtschaftlichkeitsprinzip der GKV entspricht und
- der Blickwinkel der Zulassungsbehörden, die gerade im Bereich der Arzneimittelanwendung (und diese wird bei vielen Therapien mit biologischem Hintergrund immer relevanter) neben der Sicherheit auch die Wirksamkeit eines Verfahrens zunehmend ins Zentrum der Beurteilung stellen.

All diese unterschiedlichen Aspekte unterstreichen die zunehmende Relevanz aber auch Brisanz dieser Thematik.
Am aktuellen Beispiel der Arthroskopie bei Gonarthrose – mit selbst in Fachkreisen umstrittener Wirksamkeit – erscheinen die Handlungen nachvollziehbar. Für die Versorgung symptomatischer Meniskusläsionen zum Beispiel prallen hier aber schon das Dogma der operativen Behandlungsnotwendigkeit und die wissenschaftliche Evidenz derart aufeinander, dass die Aufmerksamkeit groß wird, sollten hier strenge wissenschaftliche Kriterien in Bezug auf eine Wirksamkeitsprüfung angelegt werden. Auch weitere operative Leistungen, wie die Versorgung von Rotatorenmannschettenrupturen, die Behandlung von Kreuzband- oder Achilessehnenrupturen müssten sich ähnlichen Forderungen stellen.
Das Bedauerliche ist jedoch, dass Mediziner und Leistungserbringer in dieser Diskussion nur noch auf das reagieren können, was aus unterschiedlichen Bereichen an Sie herangetragen wird. Dabei hätte über Jahre hinweg die Möglichkeit bestanden, proaktiv für die klinische Notwendigkeit einzutreten, denn die Forderungen nach evidenzbasierten Daten sind nicht neu, sondern vielfach formuliert (5).
In einzelnen Bereichen ist dies jedoch erfolgt, wenn auch nicht durch eine intrinsische Motivation der Ärzte und Operateure. So liegen mittlerweile z. B. für den überschaubaren Bereich der operativen Behandlungen von Knorpelschäden mit zellbasierten Verfahren eine Großzahl prospektiv-randomisierter Studien vor (2, 7, 8). Der Hintergrund sind neue regulatorische Forderungen der Behörden, die für die hier zum Einsatz gebrachten zellbasierten Produkte eine Arzneimittelzulassung fordern, welche wiederum mit dem Nachweis der Wirksamkeit durch entsprechend hochqualitative Studien vergesellschaftet ist. Diese Daten werden sicherlich auch zum Zeitpunkt der Prüfung auf Wirtschaftlichkeit dienlich sein.
Leider muss man hier erwähnen, dass eine proaktive Mitgestaltung der Regeln zur Beurteilung klinischer Evidenz versäumt wurde. So gilt heute die prospektiv-randomisierte Studie als Goldstandard und einzige Möglichkeit, eine Evidenz eines Niveau 1 für die Wirksamkeit eines Verfahrens zu erreichen. Dies ist jedoch sicherlich nicht allgemeingültig und durchaus umstritten (9, 10). Viele Fragestellungen gerade im Bereich der Sportmedizin, wie z. B. der Einfluss von Geschlecht oder Körpergewicht, können in solch einer Studienform nicht beantwortet werden. Dennoch wird sie bei der Beurteilung von Verfahren heute z. B. im Verfahren der Wirksam- und Wirtschaftlichkeitsprüfung durch das INEK (Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus) als einzige zur Prüfung geeignete Studienform angesehen und der Begriff der „best available evidence“, der für viele sportorthopädisch-operative Leistungen einen hohen Stellenwert aufweist, tritt in den Hintergrund und wird ignoriert.
Am Beispiel der Meniskuschirurgie wird dies besonders deutlich. So wurden in den vergangenen Jahren einige Studien mit prospektiv-randomisiertem Studiendesign veröffentlicht (zusammengefasst in einem Review im Deutschen Ärzteblatt (6)), die jeweils keine Überlegenheit gegenüber einer Kontrollgruppe mit nicht-operativen Vorgehen zeigen konnten. Diese weisen erhebliche methodische Schwächen auf und die grundsätzliche Frage, ob diese Studien überhaupt in der Lage sind, eine Gleichwertigkeit von Operation und nicht-operativer Kontrollgruppe nachzuweisen, ist berechtigt. Die kritische Auseinandersetzung mit studienmethodischen Aspekten, die über die bloße Kategorisierung hinausgeht, findet aber in der aktuellen Diskussion genauso wenig statt, wie die Bereitschaft, auch andere Daten mit in die Bewertung des Verfahrens einfließen zu lassen.
Natürlich gilt auch hier der Vorwurf, keine eigenen besseren Studien aufzeigen zu können, als absolut berechtigt. Hier muss mit eigenen Studien unbedingt gegengesteuert werden. Es sollte jedoch auch gerade im operativen Sektor eine Basis und Akzeptanz dafür geschaffen werden, die Beurteilung der Verfahren nicht gänzlich und ausschließlich an prospektiv-randomisierten Studien festzumachen. Der Trend, hier mit Instrumenten, wie z. B. der Registerforschung, gegenzuhalten und eigene Daten aus der Versorgungsrealität zu generieren, ist unbedingt begrüßenswert. Vorreiter sind hier die skandinavischen Länder, in denen bereits langjährig neben dem bekannten Endoprothesenregister eine Vielzahl weiterer Register wie z. B. zur Versorgung von Kreuzbandverletzungen etabliert sind (3). Deshalb sind auch die Entwicklungen des KnorpelRegister DGOU (4) und des Deutschsprachigen Arthroskopieregisters (DART), welches im Herbst 2017 initiiert wird, definitiv von großer Bedeutung. Ein starker und proaktiver Einsatz für die Anerkennung solcher Daten ist essentiell wichtig und notwendig, denn aus klinischer Sicht tragen diese Instrumente der klinischen Forschung zur Verbesserung der Datenlage bei.
Wir, Ärzte und Wissenschaftler gemeinsam, müssen hier das Heft des Handelns wieder in die Hand nehmen. Es ist unsere Verantwortung, aktiv zu werden. Die Lücken in der klinisch-wissenschaftlichen Evidenz müssen geschlossen werden und wir sind hier aufgerufen, die Methodik und Studien so präzise festzulegen, um argumentativ hervorzubringen, was der langjährigen klinischen Erfahrung entspricht und für was wir eintreten. Hinweise auf Schwächen anderer Studien sollten bald keine Notwendigkeit mehr haben. Nur mit Hilfe dieser Datensammlungen können wir belegen, was wir glauben, aber auch widerlegen, wovon wir bisher überzeugt waren. Die Forderung von Billroth nach der Messbarkeit unserer Ergebnisse ist heute, fast 150 Jahre später, wichtiger denn je.

LITERATUR

  1. GEMEINSAMER BUNDESAUSSCHUSS (GBA). Beschluss des GBA. Arthroskopie bei Gonarthrose. 27.11.2015. [19. April 2017].
    http://www.g-ba.de/downloads/39-261-2388/2015-11-27_MVV-RL_Arthroskopie-Gonarthrose_BAnz.pdf
  2. GOYAL D, GOYAL A, KEYHANI S, LEE EH, HUI JH. Evidence-based status of second- and third-generation autologous chondrocyteimplantation over first generation: a systematic review of level I and II studies. Arthroscopy. 2013; 29: 1872-1878.
    doi:10.1016/j.arthro.2013.07.271
  3. GRANAN LP, BAHR R, STEINDAL K, FURNES O, ENGEBRETSEN L. Development of a national cruciate ligament surgery registry: the Norwegian National Knee Ligament Registry. Am J Sports Med. 2008; 36: 308-315.
    doi:10.1177/0363546507308939
  4. MAURER J, GROTEJOHANN B, JENKNER C, SCHNEIDER C, FLURY T, TASSONI A, ANGELE P, FRITZ J, ALBRECHT D, NIEMEYER P. A Registry for Evaluation of Efficiency and Safety of Surgical Treatment of Cartilage Defects: The German Cartilage Registry (KnorpelRegister DGOU). JMIR Res Protoc. 2016; 5: e122.
    doi:10.2196/resprot.5895
  5. OBREMSKEY WT, PAPPAS N, ATTALLAH-WASIF E, TORNETTA P 3RD,BHANDARI M. Level of evidence in orthopaedic journals. J Bone Joint Surg Am. 2005; 87: 2632-2638.
  6. PETERSEN W, ACHTNICH A, LATTERMANN C, KOPF S. The Treatment of Non-Traumatic Meniscus Lesions. Dtsch Arztebl Int. 2015; 112: 705-713.
  7. RIBOH JC, CVETANOVICH GL, COLE BJ, YANKE AB. Comparative efficacy of cartilage repair procedures in the knee: a network metaanalysis. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc. 2016. [Epub ahead of print].
    doi:10.1007/s00167-016-4300-1
  8. SAFRAN MR, SEIBER K. The evidence for surgical repair of articular cartilage in the knee. J Am Acad Orthop Surg. 2010; 18: 259-266.
    doi:10.5435/00124635-201005000-00002
  9. VANDENBROUCKE JP, VON ELM E, ALTMAN DG, GØTZSCHE PC, MULROW CD,POCOCK SJ, POOLE C, SCHLESSELMAN JJ, EGGER M; STROBE INITIATIVE. Strengthening the Reporting of Observational Studies in Epidemiology (STROBE): explanation and elaboration. Int J Surg. 2014; 12: 1500-1524.
    doi:10.1016/j.ijsu.2014.07.014
  10. YANG W, ZILOV A, SOEWONDO P, BECH OM, SEKKAL F, HOME PD. Observational studies: going beyond the boundaries of randomized controlled trials. Diabetes Res Clin Pract. 2010; 88: S3-S9.
    doi:10.1016/S0168-8227(10)70002-4
Prof. Dr. med. Philipp Niemeyer
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie
Orthopädische Chirurgie München, OCM
Gemeinschaftspraxis GbR, OCM Klinik GmbH
Steinerstraße 6, 81369 München
Philipp.Niemeyer@ocm-muenchen.de