Die Verantwortung der Sportmedizin im Leistungssport
KOMMENTAR
Die Verantwortung der Sportmedizin im Leistungssport
Kommentar zum Editorial „Doping im Leistungssport in Westdeutschland“ (Stellungnahme der deutschen Hochschullehrer und des Wissenschaftsrates der DGSP), Dtsch Z Sportmed 62 (2011) 343.
Die Diskussion um eine konsensfähige Stellungnahme der Hochschullehrer der deutschen Sportmedizin zum Thema Doping hat gezeigt, dass sich die Sportmedizin ihrer diesbezüglichen Verantwortung bewusst ist (11). Es muss aber die Frage erlaubt sein, warum erst jetzt? Warum hat man sich nicht bereits früher mit verschiedenen Studien kritisch auseinander gesetzt? Der wissenschaftlichen Öffentlichkeit sind die Anabolikastudien, die jetzt verurteilt werden, seit langem zugänglich und den meisten auch bekannt.
Eine weitere Frage bleibt offen. Warum diese plötzliche Eile, obwohl durchaus noch Diskussionsbedarf bestand? Die Stellungnahme der Hochschullehrer bezieht sich u.a. auf die vom DOSB und Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Auftrag gegebene Studie „Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation“. Die Ergebnisse für den Zeitraum der 1970er und 1980er Jahre wurden am 27.9.2011 in Berlin und bei einem Pressegespräch, das einen Tag vorher stattfand, vorgestellt. Vorab hatte bereits der „Spiegel“ berichtet. Eine Analyse durch den wissenschaftlichen Projektbeirat war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgt. Aus meiner Sicht wäre eine gründliche Aufarbeitung und nachfolgende Stellungnahme nach Vorlage der schriftlichen Fassung dienlicher gewesen, als übereilt auf Berichte und Kommentare in den Medien zu reagieren.
Bei allen kritischen Einlassungen darf die wissenschaftliche Datenlage (nicht die veröffentlichte Meinung) zum jeweiligen Zeitpunkt nicht unberücksichtigt bleiben. Ich habe darauf bereits an anderer Stelle im Vorfeld der Diskussion um die Stellungnahme der Hochschullehrer hingewiesen und werde im Folgenden einige dieser Ausführungen wiederholen.
Die 1970er Jahre waren geprägt durch eine wissenschaftliche Diskussion über Wirkungen und Nebenwirkungen der anabolen Steroide bei gesunden Sportlern. Die Wirkungen wurden von einigen Wissenschaftlern infrage gestellt. Auf einem Symposium der MaxPlanck-Gesellschaft 1977 bestritten führende Endokrinologen und Grundlagenforscher einen leistungssteigernden Effekt und sprachen von einem Scheinproblem. Sie schlugen breit angelegte Untersuchungen vor, bei denen Sportler mit und ohne Anabolika über längere Zeit medizinisch beobachtet werden sollten. Bereits in den 1960er Jahren waren Nebenwirkungen der Anabolika bekannt, aber diese Studien waren Tierexperimente oder beinhalteten Befunde, die an Patienten erhoben worden waren. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde eine Reihe von Studien über Wirkungen und Nebenwirkungen von Anabolika bei Gesunden, meist Sportlern, in renommierten internationalen Zeitschriften wie beispielsweise Journal of Applied Physiology 1965 (3), Science 1969 (7), British Medical Journal 1975 (4), The Lancet 1976 (5), Clinical Science 1981 (6) publiziert. Die Probanden waren nicht immer eindeutig charakterisiert (Gewichtheber, gut trainierte Athleten, „athletic men“). Verwendet wurde in den meisten Studien Methandienon. Die tägliche Dosierung betrug 10 bis 25mg und in zwei Studien sogar 100mg. Die Befunde hinsichtlich einer Zunahme der Muskelkraft waren unterschiedlich. Die Nebenwirkungen (Beschwerden, Blutdruck, Leberwerte) wurden von keine Nebenwirkungen bis hin zum Verschwinden nach Absetzen des Anabolikums beschrieben.Bemerkenswert ist ein Zitat aus einer Publikation aus dem Jahr 1988 (10): „Some investigators have suggested that the hazards of anabolic steroids may be overstated in the diseased population and are minimal or absent in healthy subjects. Yet, many questions are unanswered. Current data do not link life-threatening side effects with intermittent use of anabolic steroids. However, many concerns remain.“ Ich teile diese Ansicht nicht, weil ich meine, dass zu diesem Zeitpunkt die gesundheitlichen Risiken ausreichend bekannt waren. Man hat auch den Eindruck, dass in den meisten Studien die Nebenwirkungen eher am Rande beschrieben und diskutiert wurden. Andererseits weist diese Publikation darauf hin, dass auch 1988 noch kein wissenschaftlicher Konsens bestanden hat.In den 1980er Jahren kam ein weiteres Problem hinzu. Die These von einer angeblich notwendigen Substitution mit Testosteron insbesondere in Ausdauersportarten wurde verbreitet. Es wurde spekuliert, damit seien kürzere Regenerationszeiten und höhere Trainingsbelastungen möglich. Das war Anlass zur Durchführung einer multizentrischen, vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft bewilligten Studie, die diese Behauptungen wissenschaftlich überprüfen sollte. Ich habe mich mit meinem Institut an diesem Projekt beteiligt, da ich überzeugt war, dazu beitragen zu können, die bisherigen Behauptungen zu widerlegen und damit das Hineindriften von Testosteron in die Ausdauersportarten zumindest zu bremsen. In das Saarbrücker Teilprojekt wurden keine Kadersportler eingeschlossen. In der internationalen Literatur der letzten 20 Jahre existieren mehrere Testosteronstudien, beispielsweise publiziert in The New England Journal of Medicine 1996 (2) oder JAMA 1999 (9). Besonders erwähnenswert ist eine Studie aus dem Doping analyselabor Lausanne, veröffentlicht 2006 (1). In dieser Studie wurde ebenfalls der Einfluss von Testosteron auf Ausdauer und Regeneration untersucht. Es konnte kein Effekt nachgewiesen werden.
Die gegenwärtigen Diskussionen haben gezeigt, dass Studien mit Dopingsubstanzen als problematisch und sogar a priori negativ betrachtet werden, insbesondere wenn sie von im Leistungssport tätigen Sportmedizinern durchgeführt werden. Deshalb sollten verbindliche Richtlinien festgelegt werden, um gar nicht erst den Verdacht von Interessenkonflikten aufkommen zu lassen. Daher begrüße ich ausdrücklich die Erarbeitung einer „Conflict of Interest Policy“. Allerdings wird man auf sportmedizinisches Knowhow nicht verzichten können. Analoges gilt auch für die Mitgliedschaft von leistungssportlich erfahrenen Sportmedizinern in Gremien der Sportverbände und Anti-Doping-Organisationen. Wer Sitzungen solcher Gremien kennt, wird festgestellt haben, dass spezifisches Wissen um die Gegebenheiten der leistungssportlichen Praxis erforderlich ist, will man sachgerechte Entscheidungen herbeiführen.
Überflüssig in der Stellungnahme der Hochschullehrer, weil missverständlich, ist die Bemerkung, „dass Dopingmethoden zur Zeit der politischen Blockkonfrontation von der Politik teilweise gefordert und auch finanziell unterstützt wurden“. Selbst wenn man das so empfunden haben sollte, bleibt die ärztliche Verantwortung, die einem keiner abnehmen kann.
Ich habe bereits 1987 in einem Editorial in dieser Zeitschrift von einem Bermuda-Dreieck des Hochleistungssports gesprochen: Kommerzialisierung – Wettkampfinflation – Doping (8). Die Tätigkeit im Hochleistungssport ist ein sensibles Feld und stellt besondere Anforderungen an den Sportmediziner. Ich hatte damals geschrieben, dass die Gefahr, in diesem Dreieck als Medizinmann verschlissen zu werden, nicht unerheblich ist. Deshalb darf man sich, von wem auch immer, nicht vereinnahmen lassen. Bemerkungen über Einflüsse außerhalb der Medizin sind in diesem Zusammenhang nicht dienlich, auch wenn im nachfolgenden Satz eine Rechtfertigung vor diesem Hintergrund verneint wird. Auf eine Nachteilvermeidungsstrategie, wie von Historikern des oben genannten aktuellen Forschungsprojekts diskutiert, sollten sich ärztlich tätige Sportmediziner nicht berufen.
Die Stellungnahme der Hochschullehrer betont, dass eine qualifizierte medizinische Betreuung im Wettkampfsport zu den Aufgaben der universitären Sportmedizin gehört. Dem schließe ich mich uneingeschränkt an. Zweifellos hat dabei die Gesundheit oberste Priorität. Darüber hinaus können Athletinnen und Athleten erwarten, sportmedizinisch so betreut zu werden, dass sie im Wettkampf jene Leistung erreichen, zu der sie aufgrund ihres Talents und ihres Trainings befähigt sind. Dazu gehören beispielsweise leistungsphysiologische Maßnahmen wie Leistungsdiagnostik und Trainingssteuerung. Die medizinische Betreuung von Leistungssportlern gehört zu den Kernkompetenzen der Sportmedizin. Allerdings sollte man sich – insbesondere materielle – Unabhängigkeit bewahren und darf sich nicht instrumentalisieren lassen. Hauptamtliche Tätigkeiten im Leistungssport sind deshalb abzulehnen. Sportmedizin ist viel mehr als nur Leistungssport!
LITERATUR
- Effect of multiple oral doses of androgenic anabolic steroids on endurance performance and serum indices of physicalstress in healthy male subjects. Eur J Appl Physiol 98 (2006) 329-340.
- The effectsof supraphysiologic doses of testosterone on muscle size and strength innormal men. N Engl J Med 335 (1996) 1-7.
- Effect of an anabolic steroid on physical performance of young men. J Appl Physiol 20 (1965)1038-1040.
- Anabolic steroids inathletics: crossover double-blind trial on weightlifters. Br Med J 2 (1975)471-473.
- „Anabolic“ effcts of methandienone in menundergoing athletic training. Lancet 2 (1976) 699-702.
- Effects of methandienone on the performance and body composition of men undergoing athletic training. ClinSci 60 (1981) 457-461.
- Anabolic steroid: effcts on strength development. Science 164 (1969) 957-959.
- Editorial. Dtsch Z Sportmed 38 (Sonderheft 1987) 3.
- Effct of oral androstenedione on serum testosterone and adaptations to resistance training in young men: a randomized controlled trial. JAMA 281 (1999) 2020-2028.
- Anabolic steroid use by athletes. How serious are the health hazards? Postgrad Med 84 (1988) 37-38, 41-43,47-49.
- Doping im Leistungssport in Westdeutschland. Stellungnahme der Hochschullehrer der deutschen Sportmedizin. Dtsch Z Sportmed 62 (2011) 343-344.
Prof. Dr. Wilfried Kindermann
Institut für Sport-und Präventivmedizin
Universität des Saarlandes
66123 Saarbrücken
E-Mail: w.kindermann@mx.uni-saarland.de